Gastkommentar

Die Verrechtlichung der Weltpolitik

Peter Kufner
  • Drucken
  • Kommentieren

Israel vor dem Internationaen Gerichtshof. Das Völkerrecht wird zum Schauplatz für Weltpolitik. Das ist begrüßenswert, sorgt aber auch für Kritik.

Beim Internationalen Gerichtshof (IGH; Englisch: International Court of Justice, ICJ) sind derzeit drei Verfahren anhängig, die sich um Völkermord drehen. Den Anfang machte Gambia, das 2019 gegen Myanmar (Burma) wegen der Behandlung der Rohingya durch das dortige Militärregime vor Gericht zog. Nach dem 24. Februar 2022 folgte die Ukraine, die Russland wegen des offensichtlichen Missbrauchs der Völkermordkonvention zur Rechtfertigung seiner Aggression angeklagt hatte. Und nun Südafrika, das Israel einen Genozid am palästinensischen Volk im Gazastreifen vorwirft.

So viele parallel laufende Verhandlungen zur Völkermordkonvention gab es in der Geschichte des Gerichtshofs noch nie. Zuvor hatte er sich im Zuge seines bald 80-jährigen Bestehens überhaupt nur zwei Mal eingehend damit befasst: 1951 gab er ein Rechtsgutachten zu der Frage ab, unter welchen Umständen Staaten einen Vorbehalt zur Völkermordkonvention abgeben können, 1996 folgte das erste gerichtliche Verfahren. Damals wurde Serbien verurteilt – obwohl es trotz der Unterstützung für die Milizen unter Ratko Mladić nicht selbst einen Völkermord begangen hatte, war das Land seiner Pflicht, einen solchen zu verhindern, nicht ausreichend nachgekommen.

Globale Pflichten

Südafrikas Klage geht in eine ähnliche Richtung. Ein brisanter Fall, der auf (mindestens) zwei völkerrechtliche Entwicklungen zurückgeht: Zum einen ist schon lang klar, dass bei schwerwiegenden Verbrechen wie Völkermord auch solche Länder klagen können, die nicht unmittelbar betroffen sind. Gambia hatte bis vor wenigen Jahren mit Myanmar nichts zu tun, vielmehr fungiert es als Stellvertreter der Organisation für Islamische Zusammenarbeit, die nicht selbst klagen kann (das können nur Staaten). Völkermord geht alle an, die dahingehenden Verpflichtungen gelten erga omnes partes (gegenüber allen Vertragsparteien der Völkermordkonvention).

Gastkommentare und Beiträge von externen Autoren müssen nicht der Meinung der Redaktion entsprechen.

>>> Mehr aus der Rubrik „Gastkommentare“

Zum anderen wird die Weltpolitik zunehmend verrechtlicht – so wie das Völkerrecht schon immer politisiert wurde. Das ist eine grundsätzlich begrüßenswerte Entwicklung. Statt Waffen sprechen Vertragsbestimmungen, statt Uniformen sieht man Roben, statt Schlachtfeldern einen Gerichtssaal.

Kritiker verweisen auf die unterschiedliche Verteilung weltweiter Aufmerksamkeit: Die einen fragen, wo das Verfahren gegen die Hamas bleibt. Die anderen holen noch weiter aus und betonen die vielen unterthematisierten Konflikte: von A wie Aserbaidschan (die Vertreibung von über 100.000 Armeniern aus Bergkarabach hat keinen interessiert) über M wie Myanmar (das dahingehende Verfahren ist auf ungleich weniger Interesse gestoßen) bis hin zu Z wie Zentralafrikanische Republik (wo die Hälfte der Bevölkerung nicht genug zu essen hat).

Nur: Für ein Verfahren gegen die Hamas müsste Israel Palästina als Staat anerkennen und dann vorwerfen, entweder nicht genug gegen einen Genozid an den Israelis getan zu haben (Palästina ist 2014 der Völkermordkonvention beigetreten) oder gar selbst einen begangen zu haben (also die Hamas Palästina zurechnen). Beides ist aus realpolitischen Gründen ein rein akademisches Gedankenspiel. Israels Regierung scheint sich allgemein – allein aus historischen Gründen – davor zu sträuben, die Massaker vom 7. Oktober als Genozid zu bezeichnen.

Verfahren gegen die Hamas

Davon abgesehen gibt es ein Verfahren gegen die Hamas. Aber nicht beim Internationalen Gerichtshof, sondern dem Internationalen Strafgerichtshof (die aufgrund der semantischen Ähnlichkeit und der gemeinsamen Heimat Den Haag gern verwechselt werden). Dieser ist für Einzelpersonen – und somit nicht nur für israelische Soldaten, sondern auch für die Terroristen aus den Reihen der Hamas – zuständig, die Kriegsverbrechen, Völkermord oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit begehen. Er ermittelt seit 2021 und damit lang vor dem gegenwärtigen Krieg zur Lage im Gazastreifen, Palästina (nicht aber Israel) war seinem Statut anno 2015 beigetreten.

Israel dient gut zur Ablenkung

Der zweite Vorwurf wiegt umso schwerer: Die Weltgemeinschaft hat schon lang eine regelrechte Obsession mit Israel und dem Nahostkonflikt. Das zeigt sich nicht nur exemplarisch an berüchtigten Resolutionen wie jener der UN-Generalversammlung vom November 1975, die Zionismus als „eine Form von Rassismus und rassischer Diskriminierung“ bezeichnete, sondern auch quantitativ: Eine Untersuchung vom Dezember 2015 („The Preoccupation of the United Nations with Israel: Evidence And Theory“) gelangte zu dem Schluss, dass 65 % aller länderbezogenen Resolutionen zwischen 1990 und 2013 Israel kritisiert hatten. Kein anderes Land wurde in mehr als zehn Prozent der übrigen Resolutionen genannt. Auch 2023 erfolgten 14 Resolutionen zu Israel und nur sieben zu anderen Ländern. Es wäre zu wünschen, dass der Nahostkonflikt nicht weniger, sondern andere Kriege und Menschenrechtsverletzungen mehr Aufmerksamkeit bekommen.

Dazu wird es auf absehbare Zeit nicht kommen. Israel dient Regierungen aus aller Welt schließlich schon lang dazu, von eigenen Verfehlungen abzulenken oder politisches Kleingeld zu machen. Auch beim gegenwärtigen Verfahren vor dem Internationalen Gerichtshof geht es um mehr als die Palästinenser: Südafrika hat einerseits mit Israel ein historisches Hühnchen zu rupfen (war es doch einer der größten Unterstützer des Apartheid-Regimes) und inszeniert sich andererseits als Stimme des globalen Südens im Kampf gegen den mit zweierlei Maß messenden Norden.

Jeder hat einen Ruf zu verlieren

Allein, damit kann und soll das Verfahren nicht diskreditiert werden. Im Gegensatz zu vielen Regierungen kann man den 15 (oder sogar 17, wenn man jene hinzuzählt, die von Südafrika und Israel bestellt wurden) Richtern des Internationalen Gerichtshofs nicht einfach so unlautere Absichten unterstellen. Jede, jeder einzelne hat einen Ruf zu verlieren (der russische Richter hat bei den letzten Wahlen sogar seinen Sitz verloren): Sie sind keine Staatenvertreter, vielmehr sollen sie – so der Anspruch – das Völkerrecht beziehungsweise jene Rechtstradition, der sie entstammen, repräsentieren. Unabhängig davon, wer klagt und weshalb.

Insofern erscheint es wenig hilfreich, wenn das israelische Außenministerium Südafrika als „rechtlichen Arm“ der terroristischen Hamas bezeichnet. Da ist die PR-Strategie, Google-Suchergebnisse zu sponsern (wer nach „Israel ICJ“, also der englischen Abkürzung für das Gericht sucht, bekommt als erstes Ergebnis einen Link der israelischen Regierung mit dem Titel „Israel Response to Hague ICJ“), schon filigraner (wohlgemerkt geht es unter dem Link jedoch nicht um das Verfahren vor dem Internationalen Gerichtshof selbst).

Im Gerichtssaal ist das alles unerheblich. Zumindest in der Theorie lassen die Urteile des Internationalen Gerichtshofs die Politik außen vor. Wer juristisch belangt wird, muss sich juristisch verteidigen. Da unterscheidet sich das internationale nicht vom innerstaatlichen Recht.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

Der Autor

Elisabeth Pfneisl

Ralph Janik ist wiss. Mitarbeiter an der Sigmund-Freud-Privatuniversität in Wien. Seine Schwerpunkte sind Völkerrecht und internationale Beziehungen, Menschenrechte und Krieg. Zuletzt erschienen: „Umwelt und Strafe. Überlegungen zum Ökozid“.

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.