Oberst Reisner: Nato-Staaten bereiteten sich „zu Recht“ auf möglichen Angriff vor

Archivbild eines F-16 der US-Luftwaffe.
Archivbild eines F-16 der US-Luftwaffe.Imago / Imago
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Der Experte des österreichischen Bundesheers erwartet keinen konventionellen Angriff Russlands auf ein Nato-Land, wohl aber hybride Kriegsführung gegen den Westen. Westliche Unterstützung ist für ein Durchhalten der Ukraine entscheidend.

Der Bundesheer-Experte Markus Reisner sieht die westliche Unterstützung der Ukraine in ihrem Abwehrkampf gegen Russland als entscheidend an. „Die Ukraine ist mittlerweile wie ein Patient, der an der Infusion hängt“, erklärt er in einem Pressegespräch am Dienstag in Wien. Die Ukraine sei nicht allein in der Lage, sich gegen den Aggressor zu stellen. Gleichzeitig warnt er: Der russische Präsident Wladimir „Putin darf nicht gewinnen.“

Die Folgen könnten fatal sein. Die Nato-Staaten bereiteten sich „zu Recht“ auf einen möglichen Angriff vor. Einen Angriff mit konventionellen Waffen auf ein weiteres Nachbarland Russlands erwartet der Oberst des Generalstabsdienstes zwar nicht. Sehr wohl aber führe Russland bereits einen hybriden Krieg gegen den Westen. Russland nutze den Cyber- und Informationsraum, um Missgunst und Zweifel zu erhöhen, so Reisner bei der Veranstaltung, die vom Forum for Journalism and Media (fjum) im Presseclub Concordia organisiert wurde.

Ukraine hat keine strategische Reserve mehr

Die Ukraine befindet sich nach 700 Tagen Krieg nach Ansicht Reisners nun in der sechsten Phase, der gleichzeitig zweiten Winteroffensive Russlands. Nach einer erfolgreichen Abwehr des Angriffs am 24. Februar 2022, dem Beginn eines Abnützungskriegs, den erfolgreichen Gegenoffensiven der Ukraine - eingeleitet durch die wichtige Lieferung des US-Mehrfachraketenwerfers Himars -, der ersten russischen Winteroffensive und der gescheiterten ukrainischen Gegenoffensive im Sommer, seien nun die Kapazitäten der Ukraine stark limitiert. „Es gibt jetzt die strategischen Reserven nicht mehr.“ Demnächst könnte der Fall von Awdijiwka bevorstehen, prognostiziert er.

Reisner warnt, Russland nicht zu unterschätzen. Russland könne hochwertige Waffensysteme sowie auch mittlerweile iranische Drohnen selbst produzieren und setze auf die Quantität der Waffen. Russland sei es im vergangenen Jahr gelungen, 50 bis 60 Prozent der kritischen Infrastruktur der Ukraine zu zerstören. Russen und Ukrainer bezeichnet Reisner als „heroische Gesellschaften“, die anders als die Bürger im Westen meist noch immer über eine hohe Opferbereitschaft verfügen.

Westen dürfe Ukraine nicht zu Friedensverhandlungen „zwingen“

Nicht bewerten will Reisner jedoch, wenn nicht alle ukrainischen Männer kämpfen oder die Bevölkerung in den besetzten Gebieten keine Aufstände gegen die russische Herrschaft veranstalte. Die russischen Streitkräfte gehen mit äußerster Brutalität vor, berichtet Reisner: Sie überwachen und verfolgen Menschen, foltern, misshandeln. Oft kehren Ukrainer verstümmelt aus der russischen Kriegsgefangenschaft zurück.

„Russland vergewaltigt die Ukraine“, sagt Reisner. Putin habe wiederholt gesagt, dass die Ukraine kein Recht auf eigene Staatlichkeit habe. In einer solchen Situation dürfe der Westen die Ukraine nicht zu Friedensverhandlungen „zwingen“.

„China wird Russland nicht hängen lassen“

Russland stehe nicht allein, sondern werde vom Globalen Süden allen voran China unterstützt. „China wird Russland nicht hängen lassen“, betont Reisner. Auch andere Länder hätten ihre Chancen erkannt. „60 bis 80 Prozent der elektronischen Bauteile kommen über China oder die Türkei.“ Indien wiederum kaufe Rohstoffe und verkaufe diese weiter. In dieser Hinsicht hätten zwölf westliche Sanktionspakete „kurz- und mittelfristig nichts bewirkt“. Aktuell gebe es ein „Missverhältnis“ in der Waffenproduktion von 3:1 für Russland. Europa und die USA haben der Ukraine außerdem Waffensysteme nicht im zugesagten Ausmaß geliefert, sondern oft nur 40 bis 50 Prozent der Zusagen eingehalten, schätzt Reisner.

Aus „der Not“ habe die Ukraine ihre Strategie ändern müssen und 2024 zum „Jahr der Defensive“ erklärt. Wenn der eigene Militärkomplex hochgefahren sei, könne die Ukraine 2025 in die Offensive gehen. Ob die Ukraine bis 2025 durchhält, hänge aber eben von der westlichen Unterstützung ab. Wie es ausgeht, will Reisner nicht prognostizieren. „Wir erleben Geschichte“, sagt er. Niemand könne die Zukunft vorhersehen und einschätzen, ob eventuell ein „Aufs Ganze Gehen“ zum Erfolg führen würde oder zur Eskalation. Dies sei der Grund für das vorsichtige Vorgehen der USA, die mit ihrer „boiling the frog“-Strategie Russland nicht zu sehr in die Enge treiben, um keinen Atomwaffeneinsatz zu provozieren.

Österreich muss „selbst resilient werden“

Russland „könnte jederzeit auch eine Drohne bis zu uns schicken“, betont der Experte. Dagegen könne man derzeit „kaum etwas tun“. Die europäischen Streitkräfte seien nach dem Zerfall der Sowjetunion massiv reduziert worden. Angesprochen auf Österreich sagt Reisner: „Wenn wir die Wehrpflicht nicht hätten, dann hätten wir in unserer postheroischen Gesellschaft kaum mehr Soldaten.“ Die Neutralität habe Österreich im Kalten Krieg nur scheinbar geschützt. Wäre es zu einer Eskalation oder einem Atomwaffeneinsatz gekommen, so hätte dies auch vor Österreich nicht halt gemacht. Die heute in den Archiven in Washington und Moskau einsehbaren Angriffs- und Verteidigungsplanungen zeigten dies eindeutig. „Wir müssen selbst resilient werden“, betont Reisner. „Deswegen versucht das Bundesheer nachzurüsten - zum Schutz der Bevölkerung und der Republik.“ (APA)

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