US-Talkmaster in Moskau

Tucker Carlson leiht Putin sein Millionenpublikum: Angriff auf Polen „ausgeschlossen“

Es ist das erste Interview mit einem westlichen Journalisten seit zwei Jahren. Tucker Carlson gilt als Trump-Fan und Putin-Bewunderer.
Es ist das erste Interview mit einem westlichen Journalisten seit zwei Jahren. Tucker Carlson gilt als Trump-Fan und Putin-Bewunderer.Reuters / Sputnik
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Im Gespräch mit dem Ex-Fox-News-Moderator und Trump-Fan Tucker Carlson doziert Putin über sein historisches Ukrainebild und erklärt, warum der Westen erkennen werde, dass Russland in der Ukraine nicht zu besiegen sei. Widerspruch vom Fragensteller gibt es nicht. Dafür Lobhudelei in den russischen Staatsmedien.

Russlands Präsident Wladimir Putin hat sich erstmals seit Beginn des Angriffskriegs gegen die Ukraine ausführlich von einem US-Interviewer befragen lassen. Im Gespräch mit dem rechten Talkmaster Tucker Carlson sagte der Kremlchef unter anderem, ein Einmarsch Russlands in die Nato-Staaten Polen und Lettland stehe im Grunde „komplett außer Frage“ - außer „wenn Polen Russland angreift“.

Das 127 Minuten lange Interview wurde bereits am Dienstag aufgezeichnet und am Donnerstagabend (deutsche Nacht zu Freitag) zur besten Sendezeit in den USA nach eigenen Angaben ungekürzt veröffentlicht. Der für die Verbreitung von Falschmeldungen und Verschwörungstheorien bei seinem früheren Arbeitgeber Fox News bekannte Fernsehmann Carlson stellte Putins langatmige Ausführungen nicht infrage. Kritiker hatten dies schon im Vorhinein des Gesprächs als Grund ausgemacht, warum der Kremlchef dem Amerikaner ein Interview gewährt haben dürfte.

„Kein Interesse“ an Angriffen auf Polen, Lettland oder andere Länder

„Ich werde nur eine Minute brauchen, um Ihnen ein wenig geschichtlichen Hintergrund zu geben“, sagte Putin auf die Einstiegsfrage Carlson - und er sollte sich dabei grob verschätzen. Die Einstiegsfrage von Carlson drehte sich darum, ob Putin geglaubt habe, die USA hätten einen Angriff auf Russland geplant. Ob Putin sich also mit seinem Angriff auf die Ukraine also sinngemäß verteidigt habe. Das habe er nicht, antwortete Putin. „Ist das eine Talkshow oder eine ernsthafte Unterhaltung“, sagte Putin auf Russisch - um dann zu seiner Geschichtsstunde auszuholen. „Wo kam die Ukraine her?“, fragte er rhetorisch und begann seine Sicht auf die Geschichte seit 862. Fünfzig Minuten später war Putin immer noch mit seiner Geschichtestunde beschäftigt.

Erwartungsgemäß dominierte Putin das Gespräch, während Carlson davon absah, den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine auch als solchen zu bezeichnen oder von einer Invasion zu sprechen. Putin wiederum legte dar, dass Russland überhaupt kein Interesse an Polen, Lettland oder anderen Ländern habe, Ängste vor einem russischen Angriff also unangebracht seien. „Warum sollten wir das tun? Wir haben einfach kein Interesse.“ Es widerspreche dem gesunden Menschenverstand, sich auf „eine Art globalen Krieg“ einzulassen. Den Nato-Staaten warf Putin vor, die eigene Bevölkerung mit dem Vorgaukeln einer „imaginären russischen Bedrohung“ einzuschüchtern.

Mit Blick auf den Ukraine-Krieg sagte Putin gegen Ende des Interviews, man sei zum Dialog bereit - die Zeit für Gespräche sei gekommen, weil der Westen erkennen müsse, dass der Konflikt für ihn militärisch nicht zu gewinnen sei. „Früher oder später wird das in einer Einigung enden“, sagte Putin. „Wenn diese Erkenntnis eingesetzt hat, müssen sie (der Westen) darüber nachdenken, was als Nächstes zu tun ist.“

Freilassung des „Wall Street Journal“-Journalisten eine Option

Das in Moskau aufgezeichnete Interview erschien auf Carlsons Webseite und der Plattform X, vormals Twitter. Darin machte Putin zunächst langatmige Ausführungen über die Geschichte Russlands, holte bis ins 13. Jahrhundert aus und überreichte Carlson eine Mappe mit Dokumenten, „damit Sie nicht denken, dass ich mir etwas ausdenke“. Im Verlauf des Interviews rechtfertigte er den russischen Einmarsch in die Ukraine erneut mit angeblichen historischen Gebietsansprüchen und übte scharfe Kritik an der Nato sowie den USA. Carlson ließ den Kremlchef weitestgehend ausreden und hakte selten ein, baute mitunter aber auch rhetorische Rampen für Putin. An einer Stelle unterbrach er die historischen Ausschweifungen des russischen Präsidenten: „Können Sie uns sagen, in welcher Zeit? Ich verliere den Überblick darüber, wo in der Geschichte wir uns befinden.“

Am Ende sprach er Putin direkt auf den in russischer Untersuchungshaft sitzenden US-Journalisten Evan Gershkovich an und fragte, ob es Chancen auf dessen Freilassung gebe. Putin gab sich gesprächsbereit und deutete die Möglichkeit eines Gefangenenaustauschs an. „Es macht keinen Sinn, ihn in Russland im Gefängnis zu halten“, so der Kremlchef. Die USA sollten darüber nachdenken, wie sie zu einer Lösung beitragen könnten. Weitere Äußerungen Putins ließen sich so interpretieren, dass eine Freipressung des im Dezember 2021 verurteilten Tiergarten-Mörders Vadim K. gemeint sein könnte, der in Deutschland zu lebenslanger Haft verurteilt worden war.

Im Dezember hatte das Weiße Haus mitgeteilt, Moskau habe ein Angebot Washingtons zur Freilassung des für das „Wall Street Journal“ arbeitenden Journalisten abgelehnt. Gershkovich war Ende März 2023 auf einer Reportagereise in Jekaterinburg am Ural festgenommen worden. Die russische Staatsanwaltschaft wirft ihm Spionage vor. Der US-Amerikaner mit russischen Wurzeln und die Zeitung weisen die Vorwürfe ebenso zurück wie die US-Regierung.

Auf X folgt Tucker ein Millionenpublikum

Carlson hatte das voraufgezeichnete Interview über Tage hinweg als großes Medienereignis angepriesen. Das Gespräch mit dem 54-Jährigen Talkmaster dürfte dem international in der Kritik stehenden Kremlchef als willkommene Bühne vor der Präsidentenwahl am 17. März in Russland gedient haben, wie die russische Politologin Tatjana Stanowaja anmerkte. Putin habe Carlson für seine Zwecke genutzt, um einen Zugang zu US-amerikanischen Publikum zu finden. Gerade die Anhängerschaft des US-Republikaners Donald Trump, der erneut ins Weiße Haus einziehen will, steht Putin weniger kritisch gegenüber als viele andere Landsleute.

Der frühere Fox-News-Moderator Carlson erreicht über soziale Netzwerke ein Millionenpublikum. Vergangenes Jahr wurde er von dem erzkonservativen US-Sender gefeuert, ohne dass damals Gründe für den Rausschmiss genannt wurden. Er moderierte dort jahrelang eine quotenstarke Abendsendung. Diese nutzte Carlson dazu, um mit Falschbehauptungen gegen die Demokratische Partei und gegen Minderheiten zu hetzen. Kurz nach seinem Aus bei Fox News startete er eine eigene Show auf X.

„Erinnern Sie sich daran, Sie hören Wladimir Putin zu“

Der Kommunikationsdirektor des Nationalen Sicherheitsrats der USA, John Kirby, wies darauf hin, dass nichts, was in dem Interview gesagt wurde, für bare Münze zu nehmen sei. „Erinnern Sie sich daran, Sie hören Wladimir Putin zu“, sagte er am Donnerstag in Washington.

Russische staatliche und kremlnahe Medien haben das Interview hingegen erwartungsgemäß bejubelt. Am Freitag war es praktisch bei allen großen Medien online der prominenteste Bericht - und die Artikel darüber voll des Lobes. Viele gingen auf die Reichweite und mögliche Auswirkungen des Videointerviews ein. Der Clip sei bereits mehr als 60 Millionen Mal aufgerufen worden, berichtete etwa das Staatsfernsehen.

Innenpolitische Ablenkung nach Nadeschdin-Ausschluss von Wahl

Politische Beobachter hatten erwartet, dass der Kreml das erste Interview Putins mit einem westlichen Talkmaster seit Kriegsbeginn für Propagandazwecke nutzen wird. „Dem Timing nach zu urteilen, besteht die Hauptaufgabe des Interviews darin, den Skandal mit der Ablehnung der Registrierung Nadeschdins zu überdecken“, schrieb etwa der Politologe Abbas Galljamow. Boris Nadeschdin wurde als Kriegsgegner mit unerwartet großem Zulauf von Unterstützern wenige Stunden vor Veröffentlichung des Interviews von den Präsidentenwahlen in Russland ausgeschlossen. Galljamow bemängelte die kritiklose Übernahme der Thesen Putins durch Carlson.

Carlson hat Moskau inzwischen wieder verlassen. Die Nachrichten-Website „Semafor“ berichtete, er habe sich vor seiner Abreise auch mit Edward Snowden getroffen. Der US-Whistleblower, der 2013 das Ausmaß der weltweiten Überwachungs- und Spionagepraktiken der Vereinigten Staaten öffentlich gemacht hatte, lebt seit rund zehn Jahren im Exil in Russland. Nähere Details zu dem angeblichen Treffen waren zunächst nicht bekannt. (APA/dpa)

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