Gastkommentar

Statt „Leitkultur“ wäre eine Leitethik vonnöten

Peter Kufner.
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Wenn Politiker plappern, ohne zu überlegen, was sie sagen. So verwechseln sie dieser Tage die „Leitkultur“ mit der Ethik.

In der Wahlkampfzeit, die gerade begonnen hat, unterliegt die Kampfrhetorik unserer Politiker dem Zwang der Beschleunigung und damit der Oberflächlichkeit. Oft ohne Rücksicht auf Logik hat nunmehr die Lautstärke bei der Politpropaganda-Show absoluten Vorrang. Wir Wähler werden dabei als Stimmvieh oft für blöd verkauft. Wie in diesen Tagen mit der unseligen „Leitkultur“ als der Zwangsjacke der Integration von Migranten hierzulande.

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Politiker plappern sie als patriotisches Diktat gedankenlos vor sich her, ohne zu merken, das sie dabei Leitkultur mit Leitethik verwechseln! Kultur umfasst die Gesamtheit der geistigen oder künst­lerischen Leistungen und die typischen Lebensformen einer Bevölkerung. Beispielsweise die volksspezifischen Trachten, Tänze und Melodien, aber auch die Wohn- und Esskultur etwa. Als Teil der Kulturdiversität unserer Welt ist sie genauso erhaltenswert wie die Biodiversität von Fauna und Flora. Ein Vordenker der Kulturdiversität war Arthur Schopenhauer, als Vorkämpfer der biologischen Vielfalt hat sich Konrad Lorenz verdient gemacht.

Kulturen ohne Leitungsanspruch sind aber auch Gegenstand der Archäologie oder Ethnologie zum Beispiel. Wohlgemerkt deskriptiv und nicht normativ, d. h. beschreibend, aber keineswegs vorschreibend. Demgegenüber ist Ethik die Philosophie des Sittlichen, d. h. von Werten und Moral menschlichen Handelns und des Gesellschaftslebens unserer Art Homo sapiens rund um den ganzen Globus. Der allgemein-menschliche normative Maßstab unseres Handelns.

Merz versus Kant

Eine „deutsche Leitkultur“, dem sich Zuwanderer anzupassen haben, hat bereits im Jahre 2000 der für seine flotten, unüberlegten Kampfparolen berüchtigte CDU-Chef Friedrich Merz gefordert. Da hätte gerade noch die Drohung „Am deutschen Wesen wird die Welt genesen“ gefehlt!

Weil Migranten, so Kanzlerkandidat Merz mit seiner kruden Argumentation, hierzulande scharenweise ihre Gebisse behandeln lassen, müssen die Deutschen monatelang auf einen Zahnarzttermin warten.

Der deutschen Leitkultur des Friedrich Merz, des Sprücheklopfers aus dem Sauerland, steht die universale Leitethik des Philosophen Immanuel Kant aus Königsberg gegenüber, welche dieser bereits vor mehr als 200 Jahren als Kategorischen Imperativ formuliert hat: „Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.“

Unsere Leitethik toleriert kein Verprügeln der Ehefrau nach Lust und Laune, keine Genitalverstümmelung von Mädchen und keinen „Ehrenmord“ an der Schwester durch ihren Bruder, nur weil ihr Lebenspartner ein „Fremder“ ist. Wie sich das in Deutschland bereits schon mehrfach ereignet hat! Eine solche Schandtat als volksspezifisch von Migranten hierzulande zu tolerieren, widerspricht diametral unserer universal verpflichtenden Leitethik!

Unwort des Jahres 2000

Die „deutsche Leitkultur“ wurde von besorgten Demokraten als Steilvorlage für die neue Rechte bezeichnet und seinerzeit im Jahre 2000 von der Pons-Redaktion zum Unwort des Jahres erklärt. Der rückwärtsgewandte Begriff „ethos“ für ein deutsches „Staatsvolk“ wurde nach dem Zweiten Weltkrieg allmählich durch den gerechteren Begriff „demos“ abgelöst. Die jüngst aufkeimenden Kampfaufrufe für eine antipluralistische „Bekenntnisnation“ werden unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung allerdings nicht rückgängig machen können. Rattenfänger brauchen unzählige Ratten zum „Endsieg“, aber „wir sind das Volk“ und keine politischen Ungeziefer, wie im Vokabular der Neonazis.

Migranten in Lederhosen?

Was also wäre nun eine „deutsche“ bzw. „österreichische Leitkultur“? Unseren serbisch- oder türkischstämmigen Mitbürgern etwa zu verbieten, ihre aus der alten Heimat mitgebrachten Volkstrachten, Volksmusik und Volkstänze zu kultivieren? Sollten sie stattdessen Lederhosen tragen, jodeln und schuhplatteln? Beim Verschleiern von Frauen und beim Hasspredigen hierzulande hört allerdings die Toleranz der Leitethik auf. Weil religionspolitische Diktate nichts mit kultureller Diversität zu tun haben. Diese ist gegeben, wenn Südtiroler etwa frei in ihren prächtigen Schützentrachten paradieren und mit Platzpatronen ballern dürfen, ohne sich einer „Italienischen Leitkultur“ unterordnen zu müssen.

Integration heißt nicht Assimilation! Wie schön, dass es die landschaftsspezifische Vielfalt unserer Landsmannschaften gibt! Freuen wir uns, dass Tirolerisch, Steirisch oder Wienerisch etwa als Dialektdiversität unsere Sprachlandschaft so bunt machen und nicht durch ein „Reichseinheitsdeutsch“ ersetzt werden müssen. Wie das bereits einmal schon Kaiser Joseph II. versucht hat.

Der Sohn der großen Multikulti-Monarchin Maria Theresia wollte der ganzen Monarchie als Vielvölkerstaat reichseinheitlich das Deutsch als Amtssprache aufzwingen, hat sich aber mit seiner „Sprach-Leitkultur“ nicht durchsetzen können. Der geniale Kronprinz Rudolf war von Haus aus polyglott und beispielhaft sprachtolerant gegenüber den Völkern unserer Donaumonarchie.

Demgegenüber war Thronfolger Franz Ferdinand misstrauisch-arrogant, was die nichtdeutschen Untertanen des Reiches betraf. Er war nicht bereit, Sprachen zu lernen und zu begreifen, dass die einheimischen anderssprachigen keineswegs „Fremde“ waren.

Über Serben und Tschuschen

Eine kulturelle Bereicherung und somit fraglos erhaltenswert ist in Sachsen ein slawisches Völkchen, die Sorben mit ihrer bunten Trachtenkultur. Sie genießen in Deutschland mittlerweile Kulturautonomie.

Oder die „Tschuschen“, sprich Kroaten im Burgenland mit ihren Tänzen und Tamburizza-Musik, ohne die unsere Heimat kulturell wesentlich ärmer wäre. Im Gegensatz etwa zu den aufdringlichen „Mozart-Verkäufern“, die in Wien mit dem Anbieten von Führungen und Konzertkarten ahnungslose Touristen belästigen. Peinlich gekleidet in schäbigem Gehrock, mit barocker Perücke und Turnschlapfen sind sie Leitfiguren einer Un-Kultur des Wien-Tourismus!

Sie spaltet die Gesellschaft

Fassen wir zusammen: Leitkultur impliziert Arroganz und Intoleranz, dass nämlich andere Kulturen minderwertiger wären. Sie spaltet die Gesellschaft in „Wir“ und „die Anderen“. Leitethik hingegen steht für Respekt den Andersartigen gegenüber und ist das kollektive Fundament unseres Wertekanons. Sie ist ein universal-menschenbezogener Moralbegriff, Leitkultur hingegen ein regional-völkisches Diktat.

Die Verwechslung dieser beiden Begriffe entstand, weil unsere Politiker im Wahlkampf gelegentlich plappern, ohne zu überlegen, was sie sagen.

Wir sollten ihnen diesbezüglich besser nicht folgen!

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Der Autor

Prof. DDr. Antal Festetics (*1937) studierte Zoologie in Wien und lehrt Wildbiologie an der Universität Göttingen. Er war Begründer des WWF Österreich, Initiator des Nationalparks Neusiedler See und „Hainburg-Kämpfer“ für den Nationalpark Donauauen. Einem Millionenpublikum wurde er durch seine TV-Serie „Wildtiere und wir“ bekannt.

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