Gastkommentar

Vermessene Demokratievermessung

(c) Peter Kufner
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Die Rolle sogenannter Demokratieindizes wird immer wichtiger. Deren theoretische Basis ist aber unverschämt schwach.

Vorige Woche ist der „Democracy Index 2023“ veröffentlicht worden. Erstellt wird er alljährlich von der „Intelligence Unit“ der englischen Zeitschrift „The Economist“ und bietet ein Ranking von 165 Ländern. Der numerischen Rangordnung ist ein vierfaches Raster unterlegt, das politische Systeme danach klassifiziert, ob sie „vollständige“ oder „mangelhafte“ Demokratien oder aber „hybride“ oder gar autoritäre Systeme seien. Angeführt wird das jüngste Ranking von Norwegen; das Schlusslicht ist wenig überraschend Afghanistan.

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Es sieht es so aus, als lägen die Fakten wieder einmal auf dem Tisch. Die internationalen Experten haben gesprochen. Die nationalen Journalisten können nun die Regierungsmitglieder mit der Frage konfrontieren, woran es denn liege, dass das eigene Land eine schlechtere Position habe als im Vorjahr. Aber auch die internationale Politik kann sich bei der Sozialwissenschaft bedienen. Der in die EU drängenden Ukraine lässt sich nun ganz sachlich entgegenhalten, sie sei nach Mexiko und vor Uganda im Ranking auf Rang 91 platziert. Es gebe wohl noch Verbesserungsbedarf.

Aber handelt es sich bei den Informationen, die dem Ranking zugrunde liegen, überhaupt um Fakten?

Ein Blick in den methodologischen Appendix der Studie stimmt nachdenklich. Die gesammelten Länderinformationen beruhen überwiegend auf den Antworten von Experten, deren Auswahl im Dunkeln bleibt. Sollten die Informationen über ein Land lückenhaft sein, werden die Daten vergleichbarer Länder auf dieses übertragen aufgrund der bloßen Vermutung, es werde schon da wie dort gleich sein. Die Faktoren, die über die Verleihung des Prädikats „demokratisch“ den Ausschlag geben, sind vage, vor allem auch deshalb, weil sie Einschätzungen über die Bürgerpartizipation und die politische Kultur einschließen. Ein solcher Impressionismus ist das Einfallstor für die subjektiven Wertungen der „Experten“. Ob man glaubt, es gebe freies Meinungsklima (Frage V 46), hängt etwa davon ab, ob man ein Grün wählender Bobo oder ein Corona-Skeptiker ist. Ob es signifikante Diskriminierung gibt, wird von dunkelhäutigen Einwanderern wohl anders beurteilt werden als von weißen Professorinnen.

Getarnt als Konformismus

Durch die Einbeziehung solcher weichen Faktoren ist der relevante Begriff der Demokratie breit gezogen und dessen evaluative Komponente verstärkt; gleichzeitig wird der Begriff an entscheidender Stelle auch verengt, wohl um der neoliberalen Vorstellungswelt des „Economist“ zu genügen. Die soziale Gleichheit oder Ungleichheit sei für die Klassifikation von Demokratien irrelevant. In kläglichster liberaler Manier wird damit der innere Konnex zwischen Demokratie und Gleichheit gekappt. Begründet wird dies mit dem Hinweis darauf, dass die „dominant position“ diesen nicht sehe. Die mangelnde Sachlichkeit tarnt sich ziemlich hilflos als Konformismus.

Besonders schwer wiegt, dass auf Fragen eine einfache Antwort erwartet wird, wenn sich eine solche nicht geben lässt. Ist die Gesetzgebung in Österreich die höchste Gewalt? (Frage II 14). Ja und nein, denn eigentlich ist sie dies nicht, weil selbst eine gesamtändernde Verfassungsänderung vom VfGH aufgehoben werden könnte. Insofern ist Österreich nicht liberal demokratisch – jedoch nicht aus den Gründen, die 2022 das schwedische V-Dem Institut dazu veranlasst haben, Österreich zur bloßen „Wahldemokratie“ herabzustufen. Als unzweifelhaft liberale Demokratie gilt hingegen ein Land mit parlamentarischer Souveränität und ohne Verfassungsgerichtsbarkeit, wiewohl die Grundrechte in einem solchen weniger geschützt sind als bei uns. Ist es der Fall, dass fremde Mächte und Organisationen wichtige Regierungsfunktionen und Politiken beeinflussen (Frage II, 17)? Die Frage ist unsinnig. Wie könnte dies in der EU und im globalen „multilevel system“ anders sein? Der Survey ist für die Realitäten der globalisierten Welt blind.

Es ist die implizite und niemals reflektierte Hintergrundannahme der Demokratieindizes, dass die Sozialwissenschaftler heute genau wissen, was „Demokratie“ bedeutet und dass dieses Wissen einfach in Indikatoren übersetzt werden kann, die quer durch Zeit und Raum angewendet werden können. Legitim wäre dies nur aufgrund von zwei Prämissen, die von der Sozialwissenschaft aber nicht eingeholt werden können. Entweder man bekennt sich zu einer Spielart des End-of-History-Denkens und behauptet, dass wir jetzt, im frühen 21. Jahrhundert, endlich wirklich wissen, was Demokratie bedeutet; oder aber man argumentiert mit einem kruden moralischen Objektivismus, demzufolge unsere heutigen Demokratiestandards immer schon richtig gewesen sind. Dann müsste man folgerichtig aber auch behaupten, dass auch bestimmte Institutionen, deren Beschaffenheit Indizes ja mittels verschiedener Indikatoren messen, schon immer für die Demokratie zentral waren. Historische institutionelle Innovationen (etwa die kelsenianische Entwicklung des Verfassungsgerichtshofs) waren demnach nichts weiter, als ein Erkennen des bereits Richtigen. Kurzum: Wenn wir die Arbeit der empirischen Sozialwissenschaftler machen wollten und ihre nicht argumentierten Hintergrundannahmen rechtfertigen müssten, hätten wir die Wahl zwischen positivistisch verbrämter Kryptogeschichtsphilosophie und einem ahistorischen moralischen Objektivismus. Man muss nicht Karl Popper sein, um zu erkennen, dass das keine gute Wahl ist.

Den Status quo bevorzugen

Demokratieindizes bevorzugen nicht zufällig den Status quo, insoweit bestenfalls unklar ist, ob sie eine innovative Weiterentwicklung demokratischer Institutionen als ein Mehr an Demokratie messen können. In einem Institutionengefüge mit starker Verfassungsgerichtsbarkeit würde etwa jede Machtverschiebung zugunsten der Politik als demokratische Regression gelten. Gleichzeitig führen die skandinavischen Länder, die ganz ohne Verfassungsgerichte auskommen, die Rankings an.

Die Reflexion über Demokratieindizes ist keine bloße akademische Spitzfindigkeit. Für sogenannte weniger entwickelte Länder haben sie inzwischen eine beinahe ebenso wichtige Rolle wie Korruptionsindizes (insbes. der Index Transparency International). Unsere Kollegen aus Osteuropa und vom Balkan berichten immer wieder, wie wichtig es für ihre Länder ist, in diesen Rankings nicht heruntergestuft zu werden. Ausländische Investitionen hängen unter anderem davon ab, wie man gerankt ist. Es ist daher umso unverschämter, dass die theoretische Basis dieser Indizes so schwach ist.

Wozu also die Rankings? Einerseits handelt es sich um Wichtigtuerei seitens der sie veröffentlichenden Institutionen, andererseits um ein Mittel der Politik, dessen Auftreten und Relevanz in Demokratieindizes wohl selbst negativ registriert werden sollte.

Reaktionen an: debatte@diepresse.com

Die Autoren:

Alexander Somek ist Professor für Rechtsphilosophie und juristische Methodenlehre an der rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien. Zuletzt von ihm erschienen: „Moral als Bosheit“ (Tübingen, 2021).

Fabio Wolkenstein forscht an der Universität Wien zu Transformationen der Demokratie. Zuletzt erschienen: „Die dunkle Seite der Christdemokratie“ (C.H.Beck, 2022).

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