Gastkommentar

Das dritte Kriegsjahr und sein mögliches Ende

Ein Bild vom aktuellen Krieg im dritten Jahr, 27. Februar 2024, ein ukrainischer Soldat trainiert taktische Übungen in Donetsk.
Ein Bild vom aktuellen Krieg im dritten Jahr, 27. Februar 2024, ein ukrainischer Soldat trainiert taktische Übungen in Donetsk. Imago / Hector Adolfo Quintanar Perez
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Krieg gegen die Ukraine. Vier mögliche Szenarien für ein Kriegsende – und ein Worst Case.

Wir schreiben August 1916. Das verdammte dritte Kriegsjahr beginnt. Auf eine Isonzo-Schlacht folgt die nächste. Die Menschenverluste betragen mehr als das zwanzigfache des aktuellen Stellungskriegs der Donbass-Gefechte. Doch sind die Menschen- und Materialreserven der Entente nach dem amerikanischen Eingreifen unerschöpflich. Nach weiteren zwei Jahren brechen die Mittelmächte ausgehungert und ausgeblutet zusammen. Statt des noch 1916 von ihnen angebotenen Ausgleichsfriedens der schlimmste Fall: die Pariser Vorstadtdiktate, die künftiges, noch schlimmeres Unheil sähen.

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Auch wenn die Gräben viel dünner besetzt sind, macht sich auch im heutigen Ukrainekrieg auf beiden Seiten Kriegsmüdigkeit breit. Denn jeder Krieg endet einmal. Selten wie geplant und meist nicht so, wie man es sich erhofft hat. Wie könnte es weitergehen? Beginnen wir mit dem ultimativen Worst-Case-Szenario: Trump und Putin treffen einander im November in Mar-el-Lago und machen einen Deal. Trump offeriert die Waffenbrüderschaft von 1945 mit den damaligen Demarkationslinien als exklusive Einflusszonen. Im Gegenzug muss Putin seine bisherigen Bundesgenossen China, Nordkorea und den Iran als neuer US Verbündeter im Stich lassen.

Szenario Zwei: In einer demoralisierten Ukraine gelingt es dem russischen Geheimdienst Selenskyi zu stürzen und Viktor Janukowitsch oder einen ähnlichen Vaterlandsverräter in Kiew zu installieren. Der schließt einen Friedens- und Freundschaftsvertrag mit Putin, um sich mit Russland und Weissrussland auf ewig zu konföderieren. Da die Amerikaner an Europa desinteressiert sind, droht Putin auch das Baltikum, Finnland und Moldawien von „Faschisten“ befreien zu wollen.

Szenario Drei: Die Front „friert ein“ wie weiland 2014 und in den anderen postsowjetischen Kriegen in Transnistrien oder Südossetien mit einem informellen Waffenstillstand, der immer wieder unkontrollierbaren Milizen aller Art gestört wird. Kein Frieden, kein Krieg. Die Wirtschaft beider Seiten kann sich nicht entwickeln. Jeder lauert auf die nächste Runde.

Szenario Vier: Ein unbelasteter Staatsmann des Westens, nennen wir ihn Kickl und sein Vize Nehammer, fliegen mit dem Segen der Amerikaner nach Kiew/Moskau und verhandeln einen für beide Seiten gesichtswahrenden Frieden: Zuerst ein Waffenstillstand mit der Entmilitarisierung der umstrittenen Oblaste des Donbass und der Krim. UNO-Blauhelme rein. Beginn des Wiederaufbaus und Rückkehr der Vertriebenen und Flüchtlinge. Ende der Russland-Sanktionen. Nach ein, zwei Jahren ein Referendum unter internationaler Aufsicht zur nationalen Zugehörigkeit der jeweilige Oblaste und Rajons. 1920 war dies in Kärnten, Deutsch-Westungarn, etc. alles schon einmal dagewesen. Mit welchen neuen Grenzen auch immer gibt es Nato- und US-Sicherheitsgarantien für die Ukraine.

Ein Reformer nach Putin?

Szenario Fünf, das Überraschendste: Putin fällt bei der Raucherpause aus dem geöffneten Kremlfenster, verschluckt sich an einer Polonium-Tablette aus der Kreml-Apotheke oder verschwindet nach einem Unwohlsein in einem Sanatorium im Ural. Aus dem nach Diktatorenstürzen üblichen Triumvirat setzt sich plötzlich ein prowestlicher Reformer durch, den ähnlich wie Gorbatschow oder Jelzin vorher als Apparatschik niemand auf dem Radar hatte. Der Krieg geht mit leichten territorialen Konzessionen zu Ende. Westinvestitionen sind wieder willkommen. Romano Prodis Vision einer eurasischen Freihandelszone (2001) und die Nato-Partnerschaft mit Russland von 1997 hätten neue Geltung. Ein Albtraum wäre vorüber.

Albrecht Rothacher (* 1955) war von 1984 bis 2020 im diplomatischen Dienst der EU, zuletzt Leitender Verwaltungsrat im Russland-Referat des EAD in Brüssel.

(„Die Presse“, Printausgabe 1.3.2024)

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