Europäischer Rat

Industriepolitik sticht Grünen Deal der EU aus

Kommissionspräsidentin von der Leyen hat sich der Wende von Klimaschutz zu Standortpolitik gefügt. Ob ihr das eine zweite Amtszeit sichert, ist offen.
Kommissionspräsidentin von der Leyen hat sich der Wende von Klimaschutz zu Standortpolitik gefügt. Ob ihr das eine zweite Amtszeit sichert, ist offen.APA/AFP/Kenzo Tribouillard
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. Die Angst vor Deklassierung macht Wettbewerbsfähigkeit zum neuen Leitmotiv der EU.

Auch so kann Zeitenwende aussehen: Der Europäische Grüne Deal, wichtigstes politisches Vorhaben der EU seit der Europawahl 2019, ist den 27 Staats- und Regierungschefs heute kein Wort mehr wert. In ihren Schlussfolgerungen des Europäischen Rats kommt er nicht vor. Stattdessen lautet die Parole der 27 Chefs: Wettbewerbsfähigkeit. Einen neuen „Europäischen Wettbewerbsfähigkeits-Deal“ wollen sie aus der Taufe heben. „Angesichts einer neuen geopolitischen Realität und zusehends komplexer Herausforderungen ist die EU entschlossen, ihre strategische Souveränität zu stärken und ihre langfristige Wettbewerbsfähigkeit, ihren Wohlstand und ihre Führungsrolle auf der Weltbühne mit Nachdruck zu stärken“, heißt es in dem Dokument.

Mehr Bürokratieabbau

In groben Zügen sind die Umrisse dieser neuen Industrie- und Standortpolitik bereits zu erkennen. Die Chefs geloben unter anderem Bürokratieabbau, den erleichterten Fluss von Kapital an aufstrebende Unternehmen und große Investitionen in europaweite Energienetze. „Vor allem die Vereinfachung von Genehmigungsverfahren, die Beseitigung unnötiger Berichtspflichten und die Vorbeugung überlappender Pflichten werden wichtig sein“, heißt es in den Schlussfolgerungen. Um 25 Prozent weniger Meldungen an die Behörden sollten Europas Unternehmen künftig erstatten müssen – mindestens.

Deutlich ist die Rüge der Amtsführung Ursula von der Leyens, der Präsidentin der Europäischen Kommission, zwischen den Zeilen zu lesen: „Die Kommission soll hochqualitative, zeitgerechte und gründliche Folgenabschätzungen und Wettbewerbsfähigkeitsprüfungen für Gesetzesvorschläge mit bedeutenden Auswirkungen liefern.“ Diese Sprache freute nicht nur den Bundeskanzler: „Weg mit den Verboten, hin zur Innovationsfreundlichkeit, Forschungsfreundlichkeit, zur Deregulierung“, sagte Karl Nehammer am Donnerstag vor Sitzungsbeginn.

Doch sobald man sich eines der erwähnten Vorhaben genauer ansieht, treten die altbekannten Sollbruchstellen zwischen den Mitgliedstaaten zutage. So ist beispielsweise Frankreich eine treibende Kraft hinter dem Vorhaben, der EU-Wertpapier- und Marktaufsichtsbehörde Esma mit Sitz in Paris mehr direkte Aufsicht über die Finanzmärkte zu geben. Derzeit teilt sie sich diese Aufgabe mit den nationalen Finanzmarktaufsichtsbehörden, was immer wieder zu Konflikten führt. Doch allen voran Luxemburg und Irland widersetzen sich dem. Sie haben kein Interesse daran, dass auswärtige Behörden sich zu genau ansehen, was auf ihren florierenden und nicht sehr transparenten Finanzplätzen vor sich geht.

Und wenn dann auch noch das ewige Thema einheitlicher Unternehmensbesteuerung auf das Tapet kommt, sehen selbst eloquente Befürworter eines stärkeren gemeinsamen Auftretens auf der Weltbühne rot: „Wir sind ein kleines Land und haben nicht viele Wettbewerbsvorteile“, sagte Estlands Ministerpräsidentin Kaja Kallas. „Nehmen Sie uns also bitte nicht die kleinen Vorteile weg, die wir haben.“

Spaltpilz Ordnungspolitik

Auch ordnungspolitisch spaltet ein tiefer weltanschaulicher Graben die Spitzen der Union. So appellieren sowohl Enrico Letta in seinem am Mittwoch vorgestellten Bericht über die Reform des gemeinsamen Binnenmarkts als auch Mario Draghi in seinem für Juni erwarteten Papier über die Wettbewerbsfähigkeit dafür, vor allem im Telekombereich mehr Fusionen und Übernahmen zu ermöglichen.

Das brachte Wettbewerbskommissarin Margrethe Vestager auf: „Es gibt keine Belege dafür, dass stärker konzentrierte nationale Märkte bessere Ergebnisse bringen“, sagte sie. „Im Gegenteil, das kann zu weniger wettbewerbsfähigen nationalen Märkten und einem stärker fragmentierten Binnenmarkt führen.“

Nach der Europawahl am 9. Juni wird der „EU-Wettbewerbs-Deal“ konkrete Gestalt annehmen. Die Klimapolitik ist jedenfalls jetzt schon in den Hintergrund gerückt.

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