Südkorea vermisst Gerechtigkeit

Der Untergang des Schiffs Sewol, bei dem über 300 Menschen gestorben sein dürften, stellt die südkoreanische Regierung auf die Probe. Präsidentin Park wollte das Land gerechter machen. Aber für viele wirken ihre Versprechen wie leere Phrasen.

Ihr seid unfähig“, ruft eine Mutter durch den Saal. „Warum könnt ihr euren Job nicht richtig machen!“ Chung Hong-won, Südkoreas Premierminister, steht kleinlaut auf dem Podium der Turnhalle, in der die weinende Frau und hunderte andere Angehörige dieser Tage übernachten. Die Umstände seien schwierig für die Taucher, die Strömung zu stark, die Sicht im Wasser sehr schlecht. „Wir tun, was wir können“, sagt er.

In der Turnhalle wird es laut. Die Eltern sind traurig, verzweifelt, zornig. Zweieinhalb Wochen ist es her, dass die Fähre Sewol gesunken ist. 475 Passagiere waren auf dem Schiff, die Mehrheit davon Schüler auf einer Klassenfahrt. 174 Personen, darunter 15 Crewmitglieder, wurden sofort gerettet. Mehr als 300 sind tot, oder werden seit dem 16. April vermisst. Es ist eine der größten Tragödien, die Südkorea in Friedenszeiten erlebt hat. Die Mutter holt noch einmal aus und scheint den Nerv zu treffen, als sie schreit: „Wäre der Sohn eines Politikers an Bord gewesen, wären die Rettungen schneller gegangen. In diesem Land muss man eben sterben, wenn man arm ist!“


Wirtschaftswunder für wenige. Dann ist es ruhig in der Halle von Jindo, einer Kleinstadt im Süden des Landes, nahe der Küste, vor der das Schiff havariert ist. Der Premierminister ist gegangen. Ein Rettungstaucher steht an seiner statt dort. Angehörige und freiwillige Helfer wirken, als fühlten sie sich in ihren Gedanken ertappt. Häufig ist so ein Satz dieser Tage zu hören. Das Gefühl, dass es in Südkorea, dem Land des wohl beeindruckendsten Wirtschaftswunders der vergangenen Jahrzehnte, nicht gerecht zugeht, ist omnipräsent geworden.

Was lief schief, als die knapp 7000 Tonnen schwere Sewol sank? Mittlerweile ist bekannt, dass das Schiff wohl mit dem Zwei- oder Dreifachen der erlaubten Fracht beladen, die Kapazität für Passagiere illegal ausgebaut worden und die überschüssige Fracht nicht richtig befestigt worden war. Regulierungsbehörden sahen weg. Auch, weil der Branchenverband der Schifffahrtsindustrie eng mit ihnen verflochten ist.


Ein Land verliert den Glauben. Umfragen zeigen, dass die Menschen, noch mehr als auf die Schiffscrew, sauer auf die Regierung sind. Rund um die Uhr berichten die Medien von korrupten Machenschaften des Betreibers der Sewol, der Chonghaejin Marine Company, und fragen, wie diese so lange ungeahndet bleiben konnten. Aber eben auch über grundsätzlichere Versäumnisse der Regierung, die zunehmend an ihren uneingelösten Versprechen gemessen wird.

Denn als die Präsidentin Park Geun-hye vor eineinhalb Jahren ins Amt gewählt wurde, hatte sie dies unter anderem einer Phrase zu verdanken: Sie strebte eine „ökonomische Demokratisierung“ Südkoreas an. Gerechter sollte das Land werden, lebenswerter für jene mit geringeren Einkommen, misstrauischer denen gegenüber, die viel haben.

Südkoreas Einkommensungleichheit gehört zu den höheren unter den Industrienationen und nimmt zu, das soziale Sicherungsnetz dagegen rangiert international unter den schwächeren. In hohem Grad bestimmt die soziale Herkunft über Gesundheit, Wohlstand und Erfolg im Berufsleben. Die Wirtschaft wird dominiert von wenigen mächtigen Unternehmen wie den Technologiekonzernen Samsung und LG, dem Autohersteller Hyundai oder der Chemie- und Energiegruppe SK. Diese „Chaebol“ genannten Konglomerate machen Südkorea zwar international wettbewerbsfähig, unterbinden aber Wettbewerb und Neugründungen im Inland. Durch ihre Nähe zur Politik unterliegen sie wohlwollenden Regulierungen. Auch die Sonderbehandlung der Chaebol ist ein Grund dafür, dass die Empörung über das Unglück der Sewol so groß ist. „Man interessiert sich in diesem Land nur für die Großen und Wichtigen, nicht für die einfachen Leute“, ruft die wütende Mutter in der Halle und erhält laute Unterstützung von Hunderten.

Die Mehrheit der Passagiere auf der Sewol, deren Eltern nun trauern, kam aus Ansan, einem Vorort von Seoul mit einer Dreiviertelmillion Einwohnern. Das schnelle Bevölkerungswachstum machte den Ort zu einem Sinnbild des südkoreanischen Wirtschaftswunders. Nur ein Bruchteil der Einwohner wurde hier geboren, die meisten sind Zugezogene, weil sich hier, im Randgebiet der Hauptstadt, Betriebe ansiedelten. Hohe Wohnkomplexe und einfache Einkaufsläden prägen das Stadtbild. Hätten die Eltern der Schüler ein höheres Einkommen, wären ihre Kinder wohl nicht mit der Fähre auf Klassenreise gefahren, sondern mit dem Flugzeug geflogen, wie es an wohlhabenden Schulen üblich ist.

Und viele aus Ansan hatten auf Park Geun-hye gesetzt. Was ist daraus geworden? Kim Tack Whan sitzt im zehnten Stock eines Wolkenkratzers, direkt neben dem modernen Rathaus von Seoul. Der Wirtschaftskenner und Professor für Journalismus an der Kyonggi-Universität hat sich früher einen Namen als einer der anerkanntesten Journalisten seines Landes gemacht. „Die Regierung ist erschreckend passiv.“ Das verzagte Verhalten bei den Rettungsversuchen entspreche der generellen Haltung gegenüber der Bevölkerung. „Deshalb sind die Menschen so erschüttert.“


Mangel an Menschenwürde. Kim Tack Whan ist einer der vielen Bürger, die von der Politik und ihren Behörden mehr erwartet hätten, gerade jetzt. Als er ein Junge war, lag seine Heimat noch in Trümmern. 1953, nach drei Jahren Krieg mit dem verfeindeten Nachbarn im Norden, gehörte sein Land, das zuvor durch die Kolonisierung Japans und den Zweiten Weltkrieg zerrissen worden war, zu den ärmsten der Welt.

Doch es folgten Jahrzehnte des rasanten, staatsgesteuerten Aufbaus. Kims Generation schrieb Geschichte. Wie kein anderes Land schafften sie es dank ihrer Emsigkeit, binnen drei Jahrzehnten zu einer hoch industrialisierten Gesellschaft aufzusteigen. Nur forderte das schnelle Wachstum, das die Chaebols zu Weltmarktführern machte, nicht selten einen hohen menschlichen Preis.

Kim Tack Whan spricht von einem Mangel an Menschenwürde in Südkoreas streng auf Wachstum ausgelegtem Wirtschaftssystem: Rund 15 Prozent der Bevölkerung leben auch heute in relativer Armut, weil sie in irregulären Jobs arbeiten und sozial nicht gut abgesichert sind. Fünf Prozent müssen gar von weniger als 1,25 US-Dollar pro Tag leben. Koreaner aus einfachen Verhältnissen waren es, die mit der unsicheren Sewol untergingen oder heute, halb wartend, halb trauernd, in der Turnhalle in Jindo ausharren. „Es tut mir leid“, sagte die Präsidentin Park Geun-hye am Dienstag, zwei Wochen nach dem Unfall, erstmals öffentlich.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.05.2014)

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