Das BIFIE steht wegen eines Textes des Dichters Manfred Hausmann unter Beschuss. Aber dieser ist nicht braun, sondern vielmehr grün.
"Skandal!“, riefen viele: Die Schüler hätten bei der Generalprobe für die Zentralmatura eine Kurzgeschichte eines Dichters vorgesetzt bekommen, den ideologisch einiges mit dem Nationalsozialismus verbinde. Den Text „Die Schnecke“ von 1947 hätten Leser sogar damals als Entschuldigung für die Vernichtung „lebensunwerten Lebens“ lesen können.
Die vom Dichter Manfred Hausmann als beglückendes Naturwunder beschriebene Schnecke könnte für von den Nazis als „Volksschädlinge“ bezeichnete Menschen stehen? Man lese selbst: „Wie der Mann die kleine Schnecke mit ihrem fahlgelben Häuschen [...] herunternehmen will, um sie zu zertreten, fällt ihm zum ersten Male in seinem Leben auf, wie schön so ein Kriechtier doch ist“, so beginnt die Geschichte. Das Häuschen entpuppt sich als „Wunder von goldenem Licht und gläserner, perlmuttfarbener Trübung [...] Von dieser Art also, denkt der Mann, sind die Schnecken, über die ich mich jeden Morgen so ärgern muss? [...] Soll ich sie wirklich um des Salates willen zertreten? Was soll gelten auf der Welt, das freie, unberührte, goldene Geglitzer oder das gezüchtete Salatblatt, das Schöne oder das Nützliche, das Gewordene oder das Gewollte?“ Am Ende zertritt der Mann die Schnecke, und „ein mystisches Grauen steigt in ihm auf“, er sieht sich „verloren in Sünde und heilloser Zerrissenheit“.
Ein Wunder der Schöpfung steht gegen den Drang, Natur zu ordnen, zu bewerten und zu nutzen: Das ist ein immergrünes Thema. Wenn Hausmann als überzeugter Christ mit religiösen Begriffen hantiert, nähert ihn das den heutigen Umweltschützern an, auch diese lieben religiöse Bilder, wenn es um die „unschuldige“ Natur geht. Sprachlich vorgestrig, aber inhaltlich zeitlos grün, also passend für eine Diskussion über den menschlichen Umgang mit der Natur, dachten sich wohl etwas naiv die Verantwortlichen bei der Textauswahl. Ob dieser alte, schwülstige Text für heutige Maturanten geeignet ist, darüber lässt sich freilich streiten. Aber die Kritiker bemängeln vor allem den fragwürdigen „historischen Kontext“, den man zumindest hätte thematisieren müssen.
Nur: Hätte das die Maturanten nicht vom zentralen Thema des Textes fortgeführt? Und ja, der Autor verwendet Begriffe wie „Blut“ oder „Schicksal“– wie fast jeder Autor seiner Generation, inklusive Thomas Mann. War er aber ein Regime- und Kriegsbefürworter? Dann haben ihn die Geschwister Scholl missverstanden, sie fanden 1938 und 1939 in ihm einen Gesinnungsgenossen. Hausmann als Regimefreund – die Interpretation beruft sich (nicht ganz zu Recht) auf den Journalisten Arn Strohmeyer („Der Mitläufer. Manfred Hausmann und der Nationalsozialismus“, 1999). Wenn man alle belastend wirkenden Details kontextfrei auftürmt, kommt solch ein Bild zustande. Ohne selektive Wahrnehmung sieht man einen innerlich klar vom NS-Regime distanzierten, die Öffentlichkeit meidenden Autor, der sich mit seiner Familie trotzdem wenig heldenhaft durch diese Zeit wurstelte – inklusive Zugeständnisse, aber auch Reue.
Soll deshalb eine Kurzgeschichte, in der nur viel Fantasie NS-Ideologie erkennen kann, für Schüler schädlich sein? Nein, die Textauswahl ist verzeihlich. Sinnvoll wäre es wohl gewesen, den Schülern von Hausmanns Leben im NS-Regime zu erzählen und sie darüber nachdenken zu lassen, wie mutig sie selbst sich denn angesichts von Unmenschlichkeiten verhalten (würden).
anne-catherine.simon@diepresse.com
("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.05.2014)