Martin Schulz: Vom „Kapo“ zum Spitzenkandidaten

Nach persönlichen Schicksalsschlägen gelang dem deutschen Sozialdemokraten eine beispiellose europäische Karriere.

Brüssel. „In Italien wird ein Film über Konzentrationslager gedreht. Ich lade Sie ein, die Rolle des Kapo zu spielen“ – als Silvio Berlusconi am 2. Juli 2003 im Straßburger Plenum des Europaparlaments diese Worte an Martin Schulz richtete, war der Deutsche bereits seit neun Jahren EU-Abgeordneter. Doch erst der geschmacklose verbale Angriff des damaligen italienischen Regierungschefs und Schulz' würdevolle Riposte („Mein Respekt vor den Opfern des Nationalsozialismus verbietet es mir, darauf einzugehen“) machten den ehemaligen Buchhändler aus Eschweiler im Bundesland Nordrhein-Westfalen zu einer europaweit bekannten Figur – denn genau ein Jahr nach dem Straßburger Scharmützel wurde der SPD-Politiker zum Vorsitzenden der sozialdemokratischen Parteifamilie im Hohen Haus der Union gewählt. Damit war der erste Schritt in Richtung Spitzenkandidatur bei der laufenden Europawahl getan – mit Berlusconi in der Statistenrolle eines unfreiwilligen Wegbereiters.

Fußball und Alkohol


Schulz ist kein geborener EU-Funktionär, denn seine erste Liebe galt nicht der Europapolitik, sondern dem Fußball: Der Polizistensohn, Jahrgang 1955, schaffte es als Verteidiger bei Rhenania 05 Würselen bis ins Semifinale der westdeutschen B-Junioren, dann machte eine Knieverletzung seinen Traum vom Profifußball zunichte – und Schulz verfiel dem Alkohol. Nachdem er die Schule ohne Maturazeugnis verlassen hatte, ließ er sich von 1975 bis 1977 zum Buchhändler ausbilden. 1980 schaffte er den Entzug, zwei Jahre später gründete er in Würselen eine Buchhandlung, 1987 wurde er im Alter von 31 Jahren der jüngste Bürgermeister der Ortschaft im deutsch-belgisch-niederländischen Dreiländereck – ein Amt, das er bis 1998 innehatte.
Von der SPD 1994 ins Europaparlament entsandt, profilierte sich Schulz zunächst als Chef der SPD-Landesgruppe (2000–2004). Nach fünfjährigem Vorsitz bei den europäischen Sozialdemokraten wurde er 2009 Europabeauftragter der SPD, 2012 folgte das Amt des EU-Parlamentspräsidenten.
Während der Eurokrise trat Schulz als lautstarker Anwalt der südeuropäischen Schuldenländer in Erscheinung – ein Engagement, das ihm nun zugutekommen könnte. Nichtsdestoweniger stellt die Tatsache, dass er aus jenem Land kommt, das mancherorts als herzloser Sparmeister der Union dargestellt wird, ein Handicap dar. Weiteres Problem: In Großbritannien ist Schulz noch weniger beliebt als Jean-Claude Juncker. Als lautstarker und hemdsärmeliger Verfechter der europäischen Integration ist Schulz alles andere als wohlgelitten.

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