Rund 50 Tage vor dem Referendum sind noch viele unentschlossen. Dem „Ja“-Lager geht es auch um ein alternatives Wirtschaftsmodell zum Turbokapitalismus.
Glasgow/Edinburgh. „Heute oder nimmermehr!“, heißt es in dem wohl bekanntesten Gedicht „Scots Wha Hae“ des schottischen Nationaldichters Robert Burns, in dem er des Sieges seiner Landsleute über die Engländer in der Schlacht von Bannockburn vor genau 700 Jahren gedenkt. „Now's the day, an now's the hour“, das gilt auch für das heutige Schottland, denn am 18.September stimmt das Land über seine Unabhängigkeit von Großbritannien und damit über ein mögliches Ende der 307 Jahre alten Union zwischen Schotten und Engländern ab.
Landauf, landab wird über Vor- und Nachteile der Unabhängigkeit diskutiert. Manchmal werden die Diskussionen gar zu heftig: 20 Prozent der Schotten sagen, sie seien mit Familienangehörigen, Bekannten oder Arbeitskollegen ernsthaft in Streit geraten. Dagegen sieht Politikprofessor James Mitchell von der University of Edinburgh einen „Prozess der demokratischen Erneuerung“: Von den Orkney-Inseln („Our Islands Our Future“) in der fernen Nordsee bis zu den „Mums for Change“ befindet sich Schottland in einem kollektiven Prozess der Entscheidungsfindung – während England staunend schweigt.
Verstaatlichung statt Kapitalismus
Ihre Meinung längst gebildet haben sich jene Bürger, die zu einer Veranstaltung des Unabhängigkeitslagers in den wohlhabenden Glasgower Vorort Bearsden gekommen sind. „Yes“ lautet der ebenso simple, wie wirkungsvolle Slogan. Für den Auftritt der stellvertretenden schottischen Regierungschefin, Nicola Sturgeon, von der Scottish National Party SNP ist die lokale Versammlungshalle bis auf den letzten Platz gefüllt, doch Überzeugungsarbeit muss sie hier keine mehr leisten. Als sie ihre Ansprache mit den Worten beendet: „Wir werden so eine Chance kein zweites Mal bekommen, also lasst sie uns mit beiden Händen packen“, bricht stürmischer Beifall aus.
In der Debatte zeigt sich ein Bürger nach dem anderen vor allem über die vermeintliche Zerstörung des Wohlfahrtsstaats durch London besorgt. Das zielt auf die weitgehend verhasste konservativ-liberale Regierung von Premier David Cameron, doch besondere Verbitterung gilt der Labour Party: „Es ist nicht so, dass wir Labour verlassen haben. Labour hat uns verlassen“, meint ein Teilnehmer. Redner fordern die Verstaatlichung der Schiffsindustrie, den Erhalt des staatlichen Gesundheitswesens, den freien Universitätszugang und Garantien für die Sicherheit der Pensionen.
Es ist der Traum vom Sozialismus in einem Land (bei gleichzeitigem Versprechen der Senkung der Gewerbesteuer) als Gegenmodell zum Londoner Turbokapitalismus mit seiner gesellschaftlichen Entfremdung, wirtschaftlichen Ausbeutung und ideologischen Entleerung. „Wir haben die Wahl zwischen ideologischem Sparzwang oder gemeinsamem Wohlstand“, sagt Sturgeon. „Yes!“, jubelt das Publikum. „London kapiert es einfach nicht“, lautet die Botschaft der Nationalisten.
Dass Schottland statistisch dank seines Öls schon heute der reichste Teil Großbritanniens ist, kann man im Stadtteil Liberton im Süden Edinburghs nicht erkennen. In jeder Hinsicht ist der Bezirk meilenweit entfernt von dem eleganten Zentrum, den reichen Einkaufsstraßen und dem hektischen Geschäftsviertel in Schottlands Hauptstadt. Hier lebt die für das Referendum entscheidende „verschwundene Million“: die Unentschlossenen und jene, die noch nie zu einer Wahl gegangen sind.
„Die Schotten haben es satt“
Fred, Gavin und Scott sind unterwegs, um für den Verbleib Schottlands in der Union zu werben. „Ich mache mir ehrlich Sorgen, deshalb bin ich hier“, sagt Fred, ein Rechtsanwalt. Er räumt ein, dass die Ja-Seite die bessere Kampagne mache: „Wenn ich gewartet hätte, bis mich das Nein-Lager anspricht, würde ich wohl immer noch zuhause sitzen.“
Unabhängigkeitsbefürworter werfen der „Better Together“-Seite Überheblichkeit vor: „Die Schotten haben es satt, dass man von oben herab mit uns redet, statt dass man mit uns spricht“, sagt Michelle Thomson von der Gruppe „Business for Scotland“. Doch von Überheblichkeit sind die drei besorgten Bürger weit entfernt. Sie meinen, „die Unsicherheit der Unabhängigkeit ist einfach zu groß“, wie Fred sagt. Sein Mitstreiter Gavin, von Beruf Immobilienmakler, will „den Menschen die Augen öffnen“: „Viele Menschen hier werden von der Politik nicht mehr erreicht.“ Scott, der an der Technischen Universität Edinburgh unterrichtet, will, „dass die Menschen die Fakten hören“.
Sie zu erreichen ist harte Arbeit. Der Tenor an der Türschwelle lautet: „Ich traue sowieso keinem Politiker“ oder „Das sollen sich die untereinander ausmachen“ und „Für uns kommt sowieso nichts Gutes heraus“. Ungefähr jedes zweite Wort lautet „f***“. Wer an diesen Wohnungstüren steht, ist dankbar, nicht hereingebeten zu werden.
Was man hier erahnen kann, sind die enormen sozialen Probleme Schottlands, die sich etwa in einem markant schlechteren Gesundheitszustand bemerkbar machen. Wenn in der Gruppe der Außenseiter ein Trend erkennbar ist, dann in Richtung Nationalisten, denn, wie es Dan aus der Siedlung Liberton formuliert: „Was haben wir zu verlieren?“
Dicke Männer im Kilt werfen Stämme
Unmittelbar in der Nähe von Bannockburn, wo am 24.Juni 1314 die von Burns besungene Schlacht stattgefunden hat, finden die 158.Highland Games des Städtchens Alva statt. Es wird gelaufen, geworfen, geradelt und gestoßen. Publikumslieblinge sind traditionell die „heavies“, die dicken Männer im Kilt, die am Ende eines langen Tages sogar einen Baumstamm zu werfen versuchen.
Längst sind die Highland Games eine Touristenattraktion, doch immer noch sind sie auch eine „Manifestation des Schottentums“. Organisationsleiter Craig Dunbar: „Wir feiern eine lange, stolze und nicht immer glückliche Geschichte.“ Ja- und Nein-Lager habe man von der Veranstaltung ausgeschlossen („Wir wollen einen Tag Ruhe“), dennoch ist das Thema Unabhängigkeit in aller Munde.
Dunbar meint zwar, ein Ja wäre „ein riesiger Vertrauensvorschuss. Aber ist nicht alles im Leben mit einem Risiko verbunden?“ Margaret, 61 Jahre und Schaustellerin („Das Geschäft geht sehr schlecht“), ist nicht überzeugt von den Segnungen der Trennung: „Ich will nicht einen Pass brauchen, wenn ich meinen Bruder in Newcastle besuche.“
Niemals für englisches Fußballteam
Völlige Übereinstimmung besteht nur in einem: Auf die Frage „Würden Sie das englische Fußballteam unterstützen?“ antworten hundert Prozent der Befragten mit einem entschlossenen „Niemals!“.
Zurück in Glasgow versinkt das Zentrum der größten Stadt Schottlands in Wochenendvergnügen. In der Hope Street wird inbrünstig Karaoke gesungen, eine Unterhaltung aus scheinbar vergangener Zeit. Das Bier ölt die Kehlen. Wer nicht singt, steht auf der Straße, raucht, redet und lacht. Um zehn Uhr abends ist es noch hell und die Nacht noch jung.
Die Hope Street mündet in die Gordon Street, und unvergessen ist die unglückliche Premierministerzeit des Schotten Gordon Brown. Von der Gordon Street sind es nur ein paar Schritte zum George Square, wo der größten Schotten mit Statuen gedacht wird. Darunter ist William Gladstone, der im 19.Jahrhundert viermal Premierminister des Vereinigten Königreichs war. Von Adam Smith bis James Watt, von Walter Scott bis Mary Stuart: Schotten haben Großbritannien entscheidend geprägt.
In der nahen Fußgängerzone spielt jemand wie aus der Zeit gelöst auf einer Panflöte „I Have a Dream“. Hier ist nicht England. Die Atmosphäre ist eine andere, und Schottlands Gegenwart ist nicht die Englands. Es ist kein fremdes Land, aber längst ein anderes. Das scheint London tatsächlich nicht verstanden zu haben.
AUF EINEN BLICK
Am 18.September stimmen die Schotten über eine Unabhängigkeit von Großbritannien ab. 4,2 Millionen Schotten über 16 Jahre dürfen teilnehmen. Bei Abzug der Unentschlossenen besteht aktuell eine Mehrheit von 58 zu 42 Prozent gegen die Abspaltung. Bei einem Ja würde Schottland am 24.März2016 seine Unabhängigkeit proklamieren. 1997 stimmten die Schotten dem Vorschlag der Labour-Regierung zur Wiedererrichtung eines Parlaments in Edinburgh zu. Seit 2011 regiert die Schottische Nationalpartei mit absoluter Mehrheit.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.07.2014)