Im Fall einer Abspaltung von Großbritannien müsste Schottland nach Artikel 49 des EU-Vertrags um neuen Beitritt ansuchen.
Wien. Noch gibt es keinen Präzedenzfall für die Frage, ob ein aus einem bestehenden EU-Mitglied durch Abspaltung hervorgehender, neuer Staat automatisch Teil der Europäischen Union ist. Weil auch die EU-Verträge ein solches Szenario nicht klar regeln, sind sich Juristen darüber uneinig, wie politisch und rechtlich komplex die Frage der Teilung Großbritanniens für die EU sein könnte. Die Kommission will „stets den konkreten Fall beurteilen“.
Europarechtler Walter Obwexer geht jedoch davon aus, dass „allein die völkerrechtlichen Grundsätze es gebieten, dass jeder neu gegründete Staat einen eigenen Antrag auf Mitgliedschaft stellen muss“. De facto müsste Edinburgh im Fall einer Abspaltung also nach Artikel 49 des EU-Vertrags um einen neuen Beitritt ansuchen. Der Prozess für EU-Aufnahmekandidaten aber ist erfahrungsgemäß äußerst langwierig: Zunächst muss es einen einstimmigen Beschluss im Europäischen Rat der Staats- und Regierungschefs geben; anschließend das Beitrittsabkommen von allen derzeit 28 nationalen Parlamenten der EU-Mitgliedstaaten ratifiziert werden. Zwar dürfte das Screening, bei dem ein EU-Anwärter regelmäßig in Bezug auf seine Beitrittsreife kontrolliert wird, für Schottland wegfallen.
Als Stolperstein könnte sich aber ohnehin eine ganz andere Frage erweisen: Denn längst haben mehrere Staaten, darunter Spanien, Widerstand gegen ein unabhängiges Schottland angekündigt. In Madrid fürchtet man, einen Präzedenzfall für Katalonien zu schaffen, das sich von der Regierung lösen will. Blockiert Spanien den Beitrittsprozess Schottlands also aus Angst, separatistischen Bewegungen im eigenen Land Aufwind zu verleihen, könnte sich dieser theoretisch über viele Jahre hinziehen.
Edinburgh für Vertragsänderung
Die Regierung in Edinburgh wünscht deshalb, dass bis zur geplanten Ausrufung der Unabhängigkeit im Jahr 2016 eine EU-Vertragsänderung nach Artikel 48 verhandelt wird, die einen Verbleib in der Union ermöglicht – und zwar ohne vorher um eine möglicherweise langwierige Neuaufnahme in die Union bitten zu müssen. (aga/ag.)
("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.07.2014)