Jugendrichterin: „Häftlinge sollen mit Bus zur Arbeit“

Jugendrichterin Beate Matschnig
Jugendrichterin Beate MatschnigDie Presse
  • Drucken

Gefangene sollen außerhalb der Haftanstalt arbeiten dürfen, fordert Jugendrichterin Beate Matschnig. Das verbessere die Resozialisierung und entlaste die Gefängnisse.

Die Presse: Der Strafvollzug in Österreich gilt seit langen Jahren als Justizbaustelle. Wie muss das Leitbild eines modernen Strafvollzugs aussehen?

Beate Matschnig: Eine Reform ist nur möglich, wenn man die Aufgaben des Vollzugs unterscheidet. Es gibt vier Gruppen: Eine relativ kleine Gruppe gefährlicher Täter. Die muss man zum Schutz der Allgemeinheit verwahren. Problematisch ist es, diese Gruppe in Haft zu beschäftigen, da es an Arbeitsmöglichkeiten in den Justizanstalten mangelt. Die zweite Gruppe ist jene der psychisch kranken Täter. Bei deren Unterbringung liegt das meiste im Argen. Die Justizwache ist dafür nicht geschult, es ist auch nicht ihre Aufgabe. Dann gibt es die Gruppe der Jugendlichen (vom 14. bis zum 18. Geburtstag und der jungen Erwachsenen vom 18. bis zum 21. Geburtstag, Anm.) und die Gruppe der „normalen“ Täter. Vor der dritten und der vierten Gruppe muss ich die Gesellschaft nicht besonders schützen. Hier muss eine rasche Integration in die Gesellschaft organisiert werden. Diese Personen sollten nicht oder nicht lange aus der Arbeitswelt gerissen werden. Auf diesen Aufgaben muss der Vollzug aufbauen.

„Nicht aus der Arbeitswelt reißen“ – wird allgemein zu viel Haft verhängt?

Durch die elektronische Fußfessel (so wird der Hausarrest überwacht, Anm.) oder den Freigang (manche Häftlinge arbeiten tagsüber außerhalb der Anstalt, Anm.) gibt es Alternativen zur herkömmlichen Haft. In Dänemark ist es normal, dass Häftlinge in der Früh bei der Bushaltestelle stehen, um in die Arbeit zu fahren. Das wäre auch für Österreich meine Traumvorstellung: Dass Häftlinge prinzipiell, also nicht nur Freigänger, Nächte und Wochenenden im Gefangenenhaus verbringen müssen, aber werktags arbeiten gehen.

Überfüllte Gefängnisse, zu viele Junge hinter Gittern, zu wenig Beschäftigungsmöglichkeit, zu wenig Betreuung – die Probleme gibt es seit Jahren. Warum bekommt die Politik das nicht in den Griff?

Das Thema ist nur sehr schwer parteienübergreifend unter einen Hut zu bringen. Die Beschäftigung mit Straffälligen bringt keine Wählerstimmen. Straffällige haben keine Lobby. Das heißt, man kann das Thema immer aufschieben, ohne dass etwas Gravierendes passiert.

Zu den jungen Gefangenen: Wie sieht Ihre Soforthilfe zur Verbesserung der (Haft-)Situation aus?

Diejenigen, bei denen wir wissen, dass sie eine längere Strafe ausfassen werden, sollen von Anfang an in die Jugendanstalt Gerasdorf kommen. Bei den anderen, speziell bei den jugendlichen Häftlingen in Untersuchungshaft, haben wir eine Durchschnitts-U-Haftdauer von nur 40 Tagen. Also kann niemand sagen, dass man sich vor denen besonders fürchten muss. Eine Alternative zu dieser Zeit im Gefängnis wäre für die Jugendlichen eine betreute Wohngemeinschaft, sei es kontrolliert durch eine elektronische Fußfessel oder unter Erteilung einer richterlichen Weisung, sich dort aufzuhalten. Dabei sollen für die Jugendlichen Programme zur Integration erstellt werden.

Was soll mit jungen Verdächtigen geschehen, zum Beispiel mit Mitgliedern einer Diebesbande, deren Alter man nicht kennt. Soll man die festhalten dürfen?

Es gibt einen Markt für Kinderdiebe. In London wurde ein besonders fingerfertiger Zwölfjähriger um 20.000 Pfund von einer Bande angekauft. Ich habe bei Kinderbanden ein Problem mit dem Einsperren der Kinder in ein Gefängnis. Die Hintermänner erwischt man eh nicht.

Hält man Kinderdiebe nicht fest, tauchen sie unter.

Ich meine, dass man diese Kinder in einem Jugendheim kurzfristig anhalten können soll.

Was heißt kurzfristig?

Kurzfristig heißt, Anhaltung bis zur Altersbestimmung der Jugendlichen durch einen Zahnarzt. Anhand des Zahnstatus lässt sich das Alter sagen.

Falls sich herausstellt, dass der Verdächtige 14 Jahre alt und damit strafmündig ist: Soll er dann in die U-Haft müssen?

Das hängt vom Verdacht ab. Zwei Diebstähle rechtfertigen noch keine Untersuchungshaft, nur weil der Betreffende vielleicht ein Roma ist (zuletzt wurden in Wien zwei Mitglieder einer Kinderbande, bosnische Roma, in Untersuchungshaft genommen, Anm.).

Er wäre in einem Heim aber ebenso eingesperrt.

Ja, eine Zeit lang – im Rahmen eines Pflegschaftsverfahrens.

Was soll mit einem straffälligen 12- oder 13-Jährigen geschehen? Also mit einem nicht strafmündigen Burschen?

Wir Jugendrichter und auch die Familienrichter sagen, es muss eine kurzfristige Anhaltung in einem eigenen Gebäude nach Schweizer Vorbild möglich sein. Demnach dauert es im Schnitt 14 Tage, bis mit den jungen Leuten ein Stufenplan für deren weitere Entwicklung erarbeitet wird. Diese Anhaltung ist nötig, da einige Jugendliche einfach nicht bleiben und man diese in einer normalen Wohngemeinschaft nicht festhalten kann. Wenn ich aber nie die Möglichkeit habe, den Jugendlichen eine Zeit lang festzuhalten, wird es auch nie gelingen, eine Beziehung zu ihm aufzubauen. Wir Jugendrichter finden, es ist dem Kind gegenüber grob fahrlässig, wenn ich es nicht anhalte.

Zu den hohen Haftzahlen. Seit Jahren befinden sich bundesweit relativ konstant um die 9000 Personen hinter Gittern: Soll man neue Gefängnisse bauen?

Nein. Die Gefahr ist doch, dass man neue Gefängnisse dann genauso füllt.

ZUR PERSON

Beate Matschnig (60) begann ihre Tätigkeit als Jugendrichterin 1978 im damals noch bestehenden Jugendgerichtshof (JGG) in Wien. Dort blieb sie bis zur JGG-Auflösung 2003. Dann übersiedelte sie wie alle anderen damaligen Jugendrichter in das Landesgericht für Strafsachen Wien, wo eine eigene Abteilung für Jugendstrafsachen (inklusive junge Erwachsene) geschaffen wurde. Wiens Jugendrichter treten nach wie vor für die Wiedererrichtung eines eigenen Jugendgerichtshofes ein. Matschnig ist Mitglied des Vorstandes der Fachgruppe Jugendrichter in der Richtervereinigung und Mitglied der vom Justizressort 2013 eingesetzten Task Force für den Jugendstrafvollzug. [APA ]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.08.2014)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:

Mehr erfahren

#99ideen

Sozialkompetenz via App lernen

Während Unternehmen über mangelnde soziale Fertigkeiten von Jugendlichen klagen, erarbeiten Experten Übungen für soziales Lernen.
Symbolbild
#99ideen

In Kursen lernen, Pensionist zu sein

Ingrid Korosec, die Vizechefin des ÖVP-Seniorenbundes, wünscht sich Orientierungskurse zum Pensionsantritt. Die Pension soll besser geplant werden.
Home

Freiwilligenarbeit: Pensionisten zur Feuerwehr, Sanitäter ins TV

3,3 Millionen Österreicher engagieren sich ehrenamtlich. Damit das so bleibt, fordern die betroffenen Institutionen steuerlich absetzbare Zeitspenden und finanzielle Zuschüsse für Aus- und Weiterbildungen von Freiwilligen.
Gefangenenhaus Wien-Josefstadt
Home

Strafvollzug: Besser einsperren

In der Debatte um den Strafvollzug stehen zwei Gefängnisse im Fokus: das Gefangenenhaus Wien-Josefstadt und die Haftanstalt Krems-Stein. Doch warum entstehen gerade dort die Probleme? Und wie wären sie zu vermeiden?

Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.