IS: Merkel bricht das Waffentabu

Merkel/ Steinmeier
Merkel/ Steinmeier(c) REUTERS (THOMAS PETER)
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Keine Waffen in Krisengebiete: Dieser Grundsatz ist mit Berlins Irak-Beschluss Geschichte. Doch zwei Drittel der Deutschen, die linke Opposition und Teile der Kirche verwehren ihren Sanktus.

Berlin. Im Morgengrauen des 1. September 1939 legten deutsche Sturzkampfbomber die polnische Stadt Wieluń in Schutt und Asche. Genau 75 Jahre nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs hat die deutsche Regierung Rüstungslieferungen in den Nordirak beschlossen, um die Kurden im Kampf gegen die Terrormilizen vom Islamischen Staat (IS) zu stärken. Der zeitliche Zusammenfall mit dem Gedenktag ist natürlich zufällig, erhöht aber die Symbolkraft: Erstmals liefert die Bundesrepublik Waffen in ein Kriegsgebiet – und verlässt damit einen pazifistischen Sonderweg, der aus der Verantwortung für die historische Schuld entsprang.

Für SPD-Chef Sigmar Gabriel war es „eine der schwersten Entscheidungen, die ich in meinem Leben bislang treffen musste“. Doch die „gnadenlose Brutalität“ (Verteidigungsministerin von der Leyen) der Gotteskrieger ließ den Politikern kaum eine andere Wahl: Mit Sturmgewehren, Panzerabwehrraketen und Handgranaten soll nun ein Völkermord an den Yeziden und Christen verhindert werden. Am Sonntagabend fällte Kanzlerin Merkel mit den involvierten Ministern den vor eineinhalb Wochen angekündigten Beschluss. Der Bundestag durfte am Montag nachträglich darüber debattieren. Merkel verlas eine Regierungserklärung; der Entschlussantrag der Koalitionsfraktionen sollte ihr nur den Rücken stärken. Formal korrekt: Deutschland hat zwar eine Parlamentsarmee, bewaffnete Einsätze der Bundeswehr erfordern ein Mandat der Abgeordneten. Aber über Waffenlieferungen entscheidet die Regierung. Die Richtlinien verbieten zwar Exporte in aktuelle Konfliktherde, lassen aber großzügig Ausnahmen zu, wenn „besondere außen- oder sicherheitspolitische Interessen“ es nahelegen – sprich: wenn es den politischen Willen gibt.

Er muss sich aber auch künftig von Fall zu Fall neu bilden, betonte von der Leyen: „Es gibt keinen Automatismus“ und keine „Militarisierung der deutschen Politik“. Damit wirbt die Verteidigungsministerin für eine neue Doktrin der „internationalen Verantwortung“, die unter den Deutschen auf Widerstand stößt: Mehr als zwei Drittel lehnen Waffen für die Kurden ab. Das ist vielleicht das wirklich Historische: dass eine Regierung unter Merkel-Ägide recht rasch eine so unpopuläre Grundsatzentscheidung trifft.

Engagement statt Scheckbuch

Denn militärisches Engagement ist nicht neu: Deutsche Soldaten kämpften im Kosovo und halten am Hindukusch die Stellung. Auch liefert die deutsche Rüstungsindustrie an Israel, das sich in einem permanenten Konflikt befindet. Das gebietet die Staatsräson. Doch Gewehre für die Peshmerga werden als Tabubruch empfunden. Für „verfehlt und völkerrechtswidrig“ hält Linken-Fraktionsvorsitzender Gregor Gysi das Vorgehen. Auch die Grünen-Spitze würde diese Exporte in den Irak lieber ausschließen.

Dafür liefern die Gegner auch pragmatische Argumente: Es gibt im Nahen Osten jetzt schon viel zu viele Waffen – was freilich nichts nützt, wenn sie heute in den Händen der Falschen sind. Dass deutsches Material künftig in falsche Hände gerät, kann auch Außenminister Frank-Walter Steinmeier nicht ausschließen: „Mit diesen Widersprüchen muss man leben.“ Einst rüsteten die Amerikaner die Taliban gegen die sowjetischen Besatzer Afghanistans hoch, dann richteten die radikalen Islamisten die Waffen gegen ihre Lieferanten. Die Kurden im Nordirak erweisen sich zurzeit als loyale Verbündete des Westens. Aber was, wenn deutsche Waffen später bei der PKK landen?

Vor solchen Gefahren war aber auch die bisherige „Merkel-Doktrin“ nicht gefeit. Die Kanzlerin knüpfte lange an Kohls Scheckbuch-Politik an: Deutschland kaufte sich von der eigenen Verantwortung frei. Höhepunkt der Nichteinmischung war die Nichtteilnahme am Libyen-Einsatz. Stattdessen erhielten auch autoritäre Regime wie Saudiarabien, Katar oder Algerien großzügig Panzer aus deutschen Rüstungsschmieden, wenn sie in ihrer Region für „Stabilität“ sorgten. Eine heikle Strategie, die sich nun rächt: Katar dürfte die IS-Terroristen auch mit deutschem Material beliefert haben.

Friedensbewegung wirkt nach

Mehr direktes Engagement forderten schon zu Jahresbeginn auf der Münchner Sicherheitskonferenz Bundespräsident Gauck, Steinmeier und von der Leyen – auch durch militärische Hilfe, als Ultima Ratio, wenn Diplomatie nichts mehr fruchtet. Dieser Ernstfall ist durch mordende IS-Milizen, mit denen der Westen nicht verhandeln kann, früher und eindeutiger eingetreten, als man es erwartet hat. Die Ankünder müssen nun ihren Worten Taten folgen lassen, um international glaubwürdig zu bleiben.

Die deutsche Öffentlichkeit vollzieht diesen Wandel nicht in diesem Tempo mit. Auf ein Selbstverständnis, das Deutschland allein als friedlich-neutralen Vermittler sieht, berufen sich auch große Teile der evangelischen Kirche. Das identitätsstiftende Generationserlebnis der Friedensbewegung im Kalten Krieg wirkt nach: „Schwerter zu Pflugscharen“ hieß es bei den DDR-Rebellen, „Frieden schaffen ohne Waffen“ bei den Gegnern des Nato-Doppelbeschlusses im Westen. Ein Pazifismus in Reinkultur, der vor dem Terror im Kalifat nun vielleicht endgültig verblasst.

Weitere Infos:www.diepresse.com/irak

("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.09.2014)

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