"Pelléas und Mélisande": Woraus alles hervorgeht

PELLEAS ET MELISANDE IM THEATER AN DER WIEN
PELLEAS ET MELISANDE IM THEATER AN DER WIEN(c) APA (Herbert Neubauer)
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Theater an der Wien: Debussys "Pelléas und Mélisande", von Laurent Pelly realistisch inszeniert, wird unter Bertrand de Billys Händen zur tönenden Seelenbespiegelung.

Ich sage nichts“ – das ist vielleicht der entscheidende Satz für das Verständnis dieses Stücks. Der greise König Arkel spricht ihn aus, ziemlich früh im Verlauf der undurchschaubaren Handlung. Er sagt dann zwar noch recht viel, woraus freilich, um Robert Musil zu paraphrasieren, „bemerkenswerterweise nichts hervorgeht“. Was sich in den Seelen der Akteure des symbolistischen Dramas „Pelléas und Mélisande“ ereignet, was die vielen Andeutungen und Verschweigungen bedeuten könnten, wir werden es nie erfahren. Und doch hat Maurice Maeterlinck das im Grunde ganz simple Eifersuchtsdrama um eine rätselhafte Frau, die zwischen zwei Halbbrüdern steht, in ein solch kunstvolles Geflecht von nur schemenhaft angedeuteten Beziehungen, Abhängigkeiten und Sehnsüchten eingesponnen, dass es die Zuschauer seit mehr als 100 Jahren auf unerklärliche Weise zu fesseln vermag.

In Claude Debussys kongenialer Vertonung zumal, die – obgleich sie dem „Parsifal“ mindestens ebenso viel verdankt wie den dramaturgischen Funden der russischen Avantgarde um Modest Mussorgsky – als perfekte Wagner-Antithese in die Musikgeschichte eingegangen ist.

Die Erzählung mit ihren vielen Rätseln auf die Bühne zu bringen ist eine Herausforderung. Laurent Pelly hat in seiner Neuproduktion für das Theater an der Wien einen verblüffenden Weg gewählt: Er stellt die Figuren so natürlich wie möglich auf die von Chantal Thomas karg ausgestattete Drehbühne, lässt sie Emotionen heftig ausleben und nimmt überdies nahezu sämtliche Bühnenanweisungen bitter ernst. Mélisandes Haare fallen im rechten Moment auf Pelléas herab, die Quelle rieselt, wenn sie soll, schlafende Bettler sind schlafende Bettler, klagende Dienerinnen klagende Dienerinnen. Wer nun behauptet, das sei doch eigentlich selbstverständlich, der hat 30 Jahre Inszenierungsgeschichte verschlafen. Im Falle des „Pelléas“ vielleicht sogar noch mehr, denn der scheint ja ahnungsvolle Verfremdung geradezu herauszufordern.

Wer spricht von Impressionismus?

Ihm diese vorzuenthalten macht – die Erfahrung mit Pellys scheinbar so simpel-vordergründiger Produktion lehrt das – die extreme Fallhöhe zwischen dem tatsächlich unkomplizierten Handlungsvorwurf und der textlichen wie musikalischen Machart des Stücks so extrem wie nie deutlich. Die Ausleuchtung der enigmatischen Innenwelten fällt – mangels fantasievoller Lichtregie in jeder Hinsicht – der Musik zu.

Bertrand de Billy am Pult des RSO Wien nutzt diese Chance weidlich. Vom impressionistischen – oder doch eher pseudoimpressionistischen – Klangrausch, in dem nahezu ausnahmslos sämtliche, auch berühmte Maestri Debussys Komposition in Schönheit sterben lassen, hält der Dirigent hörbar wenig. Er deckt auf, wie viele scharfkantige Schnitte, wie viele avantgardistische Spieltechniken Debussy hier verwendet, um jede Regung seiner Bühnenschützlinge, vorrangig auf jene, von denen nicht oder nur metaphorisch die Rede ist, in Klang zu verwandeln. Nur dort, wo die vielfach beschworene obscurité in clarté verwandelt, etwa in jenem aufatmenden Moment, da die Brüder aus den bedrohlichen Katakomben ans Tageslicht zurückkehren, strahlt die Musik in irisierendem Glanz.

Der Rest ist ein ungemein differenziertes Panoptikum der sinistren, dunklen, gedeckten Farben, die sich zu alptraumartigen Bildern verdichten, jäh wieder in sich zusammenstürzen und in ihrer Disparatheit auf unerklärliche Weise doch zur fünfteiligen Riesenarchitektur geraten.

Die Beredtheit der Klänge erreicht, das ist das größte Wunder dieser bemerkenswerten Aufführung, nicht in den ekstatischen Wellen der Liebes- und Todesmusik des vierten Akts ihren Kulminationspunkt, sondern im abschließenden fünften. Denn de Billy formt Golos Inquisitionsszene angesichts der sterbenden Mélisande zu einem zwingend gesteigerten dramatischen Fanal, das sich erst zuletzt in die sanfte Tristesse der berühmten Glockenschläge auflöst.

Exquisite Sängerbesetzung

Dass die Sängerbesetzung mit so viel orchestraler Differenzierungskunst mithalten kann, gehört zu den erfreulichen Dingen der Wiener Opernszene. Da ist Laurent Naouri, der als Golo aufbrausend, brutal und bis zuletzt starrsinnig bleibt, mit mächtigem Bassbariton auch vokal die zarte, fragile Mélisande Natalie Dessays unterjocht. Sie ist von mädchenhaftem Charme, unterdrückt ihre Lebendigkeit, erblüht erst angesichts des lyrisch-schwärmerischen Pelléas von Stéphane Degout zu hinreißender Schönheit, optisch wie akustisch.

Philip Ens gelingt es, trotz einiger Höhenschwierigkeiten, aus dem Arkel eine zentrale Rolle zu machen, suggeriert Sicherheit im richtungslosen Raum. Von den kleineren Rollen tönt Tim Mirfins sonorer Bass (Doktor) vielversprechend.

Wiederaufnahme erwünscht!

Reprisen: 15., 17., 20., 22. und 25.Jänner

("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.01.2009)

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