Das Blutbad, das ein 17-Jähriger an einer Schule in der baden-württembergischen Kleinstadt Winnenden nahe Stuttgart anrichtete, lässt die Erinnerungen an den Amoklauf in Erfurt 2002 hochkommen.
Winnenden/Berlin. Bisher war die verschlafene baden-württembergische Kleinstadt Winnenden auch innerhalb Deutschlands kaum jemandem bekannt. Mit dem blutigen Amoklauf vom Mittwoch, der 16 Todesopfer forderte, erlangt sie schlagartig tragische Berühmtheit und wird als „zweites Erfurt“ in die Geschichte eingehen. Allzu wach ist noch die Erinnerung an den Amoklauf in der Hauptstadt Thüringens, wo im April 2002 am Gutenberg-Gymnasium ein ehemaliger Schüler 16Personen tötete.
Am Mittwochvormittag war die Region um Winnenden, eine 27.800-Einwohner-Stadt 20 Kilometer nordöstlich von Stuttgart, in heller Aufregung: Der 17-jährige Tim K., in Schutzmaske und schwarzem Kampfanzug, betritt um 9.30Uhr die Albertville-Realschule, eröffnet das Feuer und schießt wahllos um sich. Er tötet neun Schüler und drei Lehrerinnen. Danach tritt er die Flucht an.
Auf dem Weg in die Innenstadt kommt dem Jugendlichen vor einem Zentrum für Psychiatrie ein Mitarbeiter in die Quere, den er erschießt. Wenig später stoppt der Täter ein Auto und zwingt den Fahrer, ihn ins 40 Kilometer entfernte Wendlingen zu bringen. Dort lässt er den Fahrer im Auto zurück, der die Polizei verständigt. Der Täter setzt die Flucht zu Fuß in ein nahes Industriegebiet fort, betritt ein Autohaus und erschießt dort zwei Menschen.
Am frühen Nachmittag kann der Täter auf dem Parkplatz des Autohauses gestellt werden. Es kommt zu einem Schusswechsel, zwei Polizisten werden schwer verletzt, schließlich erschießt sich der Täter, wie die Polizei am Abend mitteilte.
Im Schwimmbad verbarrikadiert
Die Ereignisse hatten sich am Vormittag überschlagen: Während eine Großfahndung nach dem Täter lief, wurden der Schulkomplex und die Innenstadt abgeriegelt. Über Radio wurden Autofahrer in der Region aufgefordert, keine Anhalter mitzunehmen. Das benachbarte Gymnasium war bereits informiert, die Schüler verbarrikadierten sich in den Klassen. Hunderte Polizisten und Rettungskräfte waren im Einsatz, die Schüler und ihre Angehörigen wurden von Psychologen und Seelsorgern betreut. Ein Teil der 560 Schüler war in eine Schwimmhalle in Sicherheit gebracht worden.
Winnenden im Ausnahmezustand: Auf das anfängliche Hubschrauberdröhnen und Sirenengeheul folgte am Nachmittag gespenstische Ruhe. Im Elternhaus des Täters, welcher der Polizei bereits bekannt war, wurden 18 – legale – Waffen gefunden. Der 17-jährige frühere Schüler der Albertville-Realschule stammt aus einer gut situierten Familie. Über seine Motive kann, wie so oft bei Amokläufen, nur gerätselt werden. Nach Angaben der Direktorin soll es sich um einen völlig unauffälligen Schüler gehandelt haben.
Baden-Württembergs Ministerpräsident Günther Oettinger (CDU), der unverzüglich per Hubschrauber an den Tatort eilte, zeigte sich bei einer Pressekonferenz entsetzt über die „grauenvolle Tat“. Erschütterte Reaktionen kamen auch von Bundespräsident Horst Köhler, Bundeskanzlerin Angela Merkel und Familienministerin Ursula van der Leyen. Nicht nur Baden-Württemberg, ganz Deutschland befindet sich in einem Schockzustand.
Schärfere Waffengesetze
Das Trauma von Erfurt ist immer noch nicht überwunden. Nach dem Amoklauf im April 2002 brauchte fast die Hälfte der Schülerschaft des Gymnasiums psychologische Betreuung, bis heute werden noch einige Schüler und Lehrer wegen posttraumatischer Belastungsstörungen behandelt.
Die Bluttat von Erfurt hatte auch politische Konsequenzen. Das Waffengesetz wurde verschärft, ein neues Jugendschutzgesetz brachte strengere Auflagen für Gewaltvideos und Computerspiele. Auch Finnland, wo im September 2008 ein 22-Jähriger in einer Schule zehn Menschen erschoss, erhielt gerade schärfere Waffengesetze.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 12.03.2009)