Ohne englische Philosophen wäre das heutige Europa nicht denkbar.
Brüssel. „Was haben die Römer je für uns getan – abgesehen von sanitären Einrichtungen, der Medizin, dem Schulwesen, Wein, der öffentlichen Ordnung, der Bewässerung, Straßen, der Wasseraufbereitung und der allgemeinen Krankenkassen?“ Diese Pointe aus einem Sketch der britischen Komikertruppe Monty Python lässt sich auch auf Großbritannien anwenden, denn die britischen Beiträge zur europäischen Zivilisation sind mannigfaltig – und der trockene englische Humor ist in dieser Liste nur ein nachrangiger Eintrag.
Vor allem was die Entwicklung des politischen und ökonomischen Betriebssystems – Stichwort Gewaltentrennung, Demokratie, freie Marktwirtschaft – anbelangt, wäre das heutige Europa ohne Ideengeber aus England und Schottland nicht denkbar – und die Magna Carta, deren Unterzeichnung sich heuer zum 900. Mal jährt, kann diesbezüglich als Initialzündung angesehen werden. Ohne die Einwilligung von König Johann Ohneland am 15. Juni 1215, seine Macht fortan mit den englischen Baronen zu teilen, hätte die europäische Geschichte einen anderen Lauf genommen – möglicherweise ohne die uns heute normal erscheinende Arbeitsteilung zwischen Exekutive, Legislative und Jurisdiktion.
Der Leviathan...
Auch das moderne Verständnis vom Staat basiert zu einem nicht unbeträchtlichen Teil auf Erkenntnissen englischer Denker. Überspitzt formuliert war die politische Ordnung der Vormoderne der organisatorischen Struktur eines Mafiasyndikats nicht unähnlich: An der Spitze als „Capo di tutti capi“ der König, der seine Getreuen mit Pfründen versorgte und sui generis uneingeschränkt über das gemeine Volk herrschte – eine Gesellschaftsordnung, die von Thomas Hobbes in seinem 1651 erschienenen Opus magnum „Leviathan“ sozusagen auf den Kopf gestellt wurde. Gemäß Hobbes basierte die Macht des Herrschers nicht auf höherer Gewalt, sondern auf dem Einverständnis der Beherrschten, die ohne den mäßigenden Einfluss der Staatsgewalt in den Urzustand des Existenzkampfes jeder gegen jeden zurückfallen würden. Zwar war Hobbes als Befürworter des Absolutismus (was wohl mit seinen Erfahrungen in den Wirren der englischen Bürgerkriegszeit Mitte des 17.Jahrhunderts zu tun haben dürfte) weit entfernt von heutigen Vorstellungen einer liberalen Teilhabe am politischen Geschehen, doch sein Konzept eines Gesellschaftsvertrags zwischen Herrscher und Untertanen eignete sich gut als Ausgangspunkt für weitere Überlegungen – und was noch wichtiger war: Er bot Möglichkeiten, den Machtanspruch des Königs rational zu hinterfragen.
...seine Widersacher...
Knapp vier Dekaden später gelang John Locke der philosophische Knock-out gegen die Willkür des Absolutismus: In seinem 1689 veröffentlichten Werk „Two Treatises of Government“ stellte der Philosoph die These auf, dass nur jene Regierungen als legitim zu betrachten sind, die natürliche Rechte ihrer Untertanen beschützen – Freiheit, Gleichheit und Unverletzlichkeit von Eigentum. Den von Hobbes als unwiderruflich definierten Gesellschaftsvertrag deutete Locke zu einer Abmachung zwischen Regierung und freien Bürgern um.
Die Konsequenz dieser Modifikation war im wahrsten Sinne des Wortes revolutionär, denn ein König, der (Eigentums-)Rechte verletzte, war laut Locke nicht legitim, sondern vertragsbrüchig – und konnte somit von seinen Untertanen abgesetzt werden. Genau auf diesen Gedanken beriefen sich die Gründerväter der Vereinigten Staaten von Amerika, die mit dem Schlachtruf „No taxation without representation“ der englischen Krone die Gefolgschaft aufkündigten.
...und die unsichtbare Hand
Apropos Steuern: Auch was die Wirtschaftsordnung anbelangt, haben wir den Briten viel zu verdanken – oder besser formuliert den Schotten, denn es war der 1723 in Kirkcaldy geborene Adam Smith, der die Blaupause für die freie Marktwirtschaft und den Aufstieg des Kapitalismus zur globalen Wirtschaftsform lieferte. In seinem Hauptwerk „Wealth of Nations“, das 1776 – also im Jahr der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung – publiziert wurde, legte der Sohn eines Zollbeamten dar, wie der individuelle Eigennutz für kollektiven Wohlstand sorgt und die „unsichtbare Hand“ des Marktes Angebot und Nachfrage zusammenbringt und die Ressourcen optimal verteilt. (la)
("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.04.2015)