Trotz mehrmonatiger US-Luftangriffe rücken die Jihadisten in Syrien und im Irak erneut vor. Die Alliierten haben ganz offensichtlich die militärische und finanzielle Stärke des IS unterschätzt.
Seit fast einem Jahr fliegt eine von den USA geführte Allianz Luftangriffe gegen den sogenannten Islamischen Staat (IS). Die IS-Terrormiliz musste Rückschläge in Syriens und Iraks Kurdengebieten hinnehmen. Doch besiegt ist sie nicht: Vor wenigen Tagen rückte der IS in die strategisch wichtige irakische Stadt Ramadi ein. Am Donnerstag eroberte er vollständig die syrische Stadt Palmyra und führte offenbar erste Hinrichtungen an Zivilisten durch.
1. Warum zeitigen die Luftangriffe der US-Koalition keine größere Wirkung?
Gemäß seinem Versprechen, das Irak-Engagement zu beenden, zog US-Präsident Barack Obama 2011 die letzten US-Kampftruppen aus dem Zweistromland ab. Als es im Sommer 2014 galt, wegen des IS-Vormarschs erneut im Irak einzugreifen, zeigte seine Regierung deshalb nur wenig Begeisterung. Zwar wurden die Luftangriffe der US-geführten Koalition seither intensiviert. De facto handelt es sich aber nach wie vor nur um punktuelle Attacken. Bei Schlachten wie um Kobane oder Tikrit waren sie eine entscheidende Hilfe für kurdische und irakische Kämpfer am Boden. Die strategische Lage veränderten sie aber nicht. Die US-Republikaner nutzen das als Vorwahlkampfmunition und werfen Obama Zögerlichkeit vor.
2. Warum ist die irakische Armee nicht schlagkräftiger?
Zwar wurden die irakischen Streitkräfte von den USA massiv aufgerüstet. Im Kampf gegen den IS erwiesen sie sich aber weitgehend als Papiertiger. Beim IS-Vorstoß auf das nordirakische Mossul im Juni 2014 leisteten sie kaum Widerstand. Später stellte sich heraus, dass viele der irakischen Einheiten nie einsatzfähig waren. Soldaten waren nie zum Dienst erschienen oder existierten gar nicht: Korrupte Offiziere kassierten den Sold für erfundene Untergebene. Auch die Fragmentierung der politischen Landschaft vermindert die Schlagkraft der Armee. Parteien zählen auf ihre Milizen. Die Loyalität dieser Einheiten gilt nicht dem Staat, sondern nur der jeweiligen politischen Gruppierung.
3. Wie kann der IS sein Gebiet unter Kontrolle halten?
Das sogenannte Kalifat des IS umfasst die Hälfte des besiedelten Syriens und weite Teile der bewohnten Gebiete des Irak (s. Karte). Den Jihadisten ist es offenbar gelungen, ein Staatswesen aufzubauen. Dabei griffen sie auch auf vorhandene Strukturen zurück. In der Millionenstadt Mossul übernahm im Juni 2014 ein Bündnis aus unzufriedenen Sunnitenstämmen, Anhängern des 2003 gestürzten Diktators Saddam Hussein und dem IS die Macht. Letzten Endes hat der IS sich durchgesetzt und kontrolliert heute Mossul. Dabei stützt er sich aber weiterhin auf die lokalen Stämme. Denn diese opponieren nach wie vor gegen Bagdad und fürchten Übergriffe, sollte Iraks Armee zusammen mit Schiitenmilizen die Stadt zurückerobern.
Dazu kommt Terror durch den IS: Sunnitische Familien, die von den Jihadisten des „Verrats“ verdächtigt wurden, fielen Massakern zum Opfer. Ehemalige Saddam-Geheimpolizisten sollen dem IS beim Aufbau interner Sicherheitsstrukturen behilflich sein, hohe Ex-Saddam-Offiziere sollen militärische Operationen planen. Der Zustrom ausländischer Jihadisten hält an. Schätzungen über die Zahl der IS-Kämpfer schwanken zwischen mehreren 10.000 und 200.000.
4. Wie finanziert der Islamische Staat (IS) sich?
Zu Beginn ihres Aufstiegs dürfte sich die Terrormiliz vor allem über Spenden aus den arabischen Golfstaaten finanziert haben. Mittlerweile holt sie auch viel Geld aus der Bevölkerung ihres Herrschaftsbereichs heraus: Laut einer jüngsten Studie der „Rand“-Stiftung soll der IS durch Erpressung und Eintreiben von Steuern täglich eine Million US-Dollar einnehmen. Der Verkauf von Erdöl soll demnach nicht mehr eine so große Rolle spielen wie früher.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.05.2015)