Einst landete der türkische Präsident wegen seinen Überzeugungen im Gefängnis. Heute handelt er genau so wie seine Widersacher damals.
Über mangelnde Arbeit können sich die Anwälte des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan ohnehin nicht beschweren, aber in Wahlkampfzeiten wie diesen geht es erst richtig rund. Chefredakteure, Karikaturisten, Journalisten, Aktivisten, selbst Teenager, die sich in sozialen Medien kritisch über Erdoğan geäußert haben, hat der Präsident wegen angeblicher Beleidigung vor Gericht gezerrt. Und in den vergangenen Tagen hat Erdoğan seine Klage-Statistik wieder aktualisieren können. Diesmal trifft es zum einen den Oppositionsführer der kemalistischen CHP, Kemal Kılıçdaroğlu, der – zwar nicht explizit, aber unüberhörbar – über den neuen, überdimensionalen Präsidentensitz in Ankara spöttelte: Die Herrschaften würden Toiletten mit vergoldeten Klobrillen aufsuchen. Es folgte ein bizarrer Schlagabtausch: Erdoğan ließ ausrichten, dass Kılıçdaroğlu die Toiletten selbst besichtigen könne, Kılıçdaroğlu ließ ausrichten, dass er nicht vom Palast gesprochen habe, Erdoğan ließ ausrichten, dass er Kılıçdaroğlu auf Schadenersatz verklagen werde.
Zum zweiten trifft es Can Dündar, Chefredakteur der Zeitung „Cumhuriyet“ und einer der bekanntesten Journalisten des Landes. Seit Dündars Zeitung über mögliche dunkle Waffengeschäfte mit syrischen Rebellen bzw. dem Islamischen Staat berichtete, ist der Präsident nicht mehr aufzuhalten: „So einfach lasse ich ihn nicht davonkommen.“ Er hat Anzeige gegen Dündar erstattet, unter anderem wegen Geheimnisverrats, und er hat Richtung Justiz auch gleich öffentlich bekundet, welches Strafausmaß er sich für den Journalisten wünsche. Zwei Mal lebenslänglich plus 42 Jahre Haft.
Parteiverbot und politische Isolation
In den vergangenen Jahren hat Erdoğan mehr als einmal veranschaulichen können, wie seine höchsteigene Interpretation von unabhängiger Justiz, Pressefreiheit und demokratischen Grundwerten lautet. Dabei ist es Erdoğan selbst, der wissen müsste, wie die Missachtung und Geringschätzung von demokratischen Pfeilern den Staat und seine Bürger zermalmen kann. Als politischer Ziehsohn des nationalistisch-islamistischen Politikers Necmettin Erbakan war Erdoğan den Lordsiegelbewahrern der kemalistisch-laizistischen Elite permanent ein Dorn im Auge. Das Duo Erbakan-Erdoğan hat aus seinen religiösen Ansichten nie ein Hehl gemacht, die Antwort darauf waren Parteiverbote und politische Isolation. Weil Erdoğan ein Gedicht des nationalistischen Dichters Ziya Gökalp öffentlich rezitierte („Die Minarette sind unsere Bajonette...“), wurde er 1998 wegen Volksverhetzung zu zehn Monaten Haft verurteilt.
Eines war schon damals klar: Es ging nicht um das Gedicht, das ohnehin jeder kannte. Es ging darum, Erdoğan endlich den Mund zu verbieten. Vor Antritt der Haftstrafe beschwerte er sich zu Recht über das repressive System, über mangelnde Menschenrechte und parteiische Justiz. Bürger würden ohne faire Verfahren und fadenscheinigen Argumenten ins Gefängnis gesteckt und die Medien würden das ihrige dazu beitragen. Erdoğan musste ins Gefängnis, weil seine Ansichten dem Staat nicht passten.
Einmal Reformeifer und zurück
Von den zehn Monaten musste er tatsächlich nur vier absitzen. Erdoğan hatte zwar noch eine Weile Politikverbot, aber er brach mit dem radikalen Erbakan und gab sich fortan als demokratischer Muslim, der sich der säkularen Republik verpflichtet fühle. Das, was ihm passiert ist, sollte keinem Bürger widerfahren. In seinen ersten Jahren als Ministerpräsident wurden die Menschenrechte gestärkt, die Pressefreiheit ausgeweitet, willkürliche Partei- und Politikverbote blockiert. Kein Regierungschef vor ihm hat das Land näher an die EU gebracht wie Erdoğan. Diesen Weg hätte er mit dem Rückhalt der Bevölkerung souverän weitergehen können, aber rückblickend lässt sich feststellen: Erdoğan war ein anderer, persönlicher Plan wichtiger.
Parallel zu den anfänglichen Reformen schwächte seine Regierungspartei sukzessiv die alte Elite. Heute behandelt er seine Gegner so, wie seine Widersacher ihn behandelt haben. Er macht sie mundtot, zitiert sie vor Gericht, schickt sie in die Bedeutungslosigkeit. Seine alte Rede über Menschenrechte und faire Verfahren hat Erdoğan längst vergessen.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.06.2015)