Türkei: Der Terror als Bumerangeffekt für Erdoğans Politik

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Die Förderung des Extremismus und die Untätigkeit Ankaras gegenüber dem IS rächen sich nun für die Regierung.

Wien/Istanbul. Als Ahmet Davutoğlu einige der Opfer des jüngsten Terroranschlags in Suruç am Spitalsbett besuchte, stand der Premier am Dienstag vor den Scherben der Syrien-Politik seiner Regierung. Diesmal machte er nicht das Assad-Regime in Damaskus für das Blutbad verantwortlich, wie vor zwei Jahren beim Doppelanschlag in der Grenzstadt Reyhanli, damals noch als Außenminister. Als Schuldige benannte er jetzt dezidiert die Schergen des Islamischen Staats (IS), dessen Bedrohung Ankara lange heruntergespielt hatte. Nach seinen Angaben hat die Polizei einen Verdächtigen ausgemacht. Die Zeitung „Hürriyet“ hatte zunächst eine 18-Jährige des Anschlags bezichtigt.

24 Stunden zuvor hatte ein Selbstmordattentat in der südostanatolischen Stadt, nahe der syrischen Grenze, die Türkei erschüttert. Aktivisten einer kurdischen Jugendbewegung hatten sich angeschickt, jenseits der Grenze in die zu Teilen in Schutt und Asche gelegte Stadt Kobane auszuschwärmen, um sie ein wenig aufzubauen, als zur Mittagsstunde eine Bombe detonierte. Der Garten des Kulturzentrums war mit Leichen und Leichenteilen von Studenten übersät, notdürftig überdeckt von Fahnen und Zeitungen. Bis zum Montagabend hatten sich die Schockwellen bereits an den Bosporus fortgesetzt. Ein paar tausend Demonstranten zogen in die Nähe des Taksim-Platzes in Istanbul. Sie skandierten Parolen, in denen sie Staatschef Recep Tayyip Erdoğan und seine AKP-Partei beschuldigten, gemeinsame Sache mit den Terroristen zu machen.

Erdoğans Dilemma

„Apo, Apo“, lautete ihr Schlachtruf – der Spitzname des inhaftierten PKK-Chefs Abdullah Öcalan, dessen Banner sie schwenkten. Und sie riefen „Rojava“, die Beschwörung einer kurdisch-autonomen Region im türkisch-syrischen Grenzgebiet – seit jeher ein Horrorszenario für die Regierung in Ankara. Die Polizei setzte Tränengasgranaten und Wasserwerfer ein, um die Demonstranten zu zerstreuen. Alle politischen Führer beeilten sich unisono, den Terrorakt zu verurteilen und an die Einheit des Staats zu appellieren – von Erdoğan bis zu Selahattin Demirtaş, dem Chef der prokurdischen HDP. „Terror kennt keine Religion, kein Land, keine Rasse“, ließ Erdoğan aus dem türkischen Nordteil Zyperns ausrichten, wo er eine Militärparade zum Nationalfeiertag abnahm.

Der Präsident und vormalige Langzeit-Premier war allerdings lange unschlüssig, von wem die größere Gefahr für die Türkei ausgehe: von den kurdischen Kämpfern und PKK-Militanten in Syrien oder den Jihadisten des Islamischen Staats. Im syrischen Bürgerkrieg hatte seine Regierung lange die Rebellen aktiv wie passiv unterstützt, die moderaten ebenso wie die radikalen. Nachschub an Waffen und anderem Material strömte – zum Teil sogar mit der Hilfe des Geheimdiensts – ungehindert über die türkische Grenze. Der Zulauf tausender Extremisten zu den diversen Rebellengruppen verlief ungebremst – und stärkte zuletzt vor allem die Heerscharen des IS. Im türkischen Grenzgebiet fanden die Radikalen ein sicheres Rückzugsgebiet.

Prämisse: Sturz des Assad-Regimes

Ankara hatte alles dem Kalkül untergeordnet, das Regime des Bashar al-Assad zu stürzen. Zugleich ist Erdoğan von der Angst eines eigenen Kurdenstaats beherrscht, der sich in dem machtpolitischen Vakuum in Nordsyrien festsetzen könnte. Darum haben die türkischen Militärs die Belagerung der kurdischen Staat Kobane – ein Kampf von hoher Symbolkraft – und schließlich die Invasion durch IS-Milizen monatelang von sicherer Warte aus beobachtet, ohne einen Finger zu krümmen. Erst nach und nach ließen sie kurdische Kämpfer über die Grenze einsickern, denen letztlich die Rückeroberung gelang.

Obwohl die Nato-Luftwaffenbasis Incirlik in der Südtürkei in relativer Nähe liegt, weigerte sich die Erdoğan-Regierung standhaft, an den Nato-Luftangriffen gegen die IS-Milizen unter Führung der USA teilzunehmen. Seit Wochen stehen derweil die türkischen Streitkräfte an der Grenze Gewehr bei Fuß, für den Fall, dass kurdische Einheiten die Oberhand gewinnen sollten – oder der Bürgerkrieg über die türkische Grenze schwappt. Pläne für die Errichtung einer Pufferzone kursieren längst in den türkischen Medien. Hochrangige Militärs warnen indessen vor dem Risiko eines Alleingangs der Armee.

Seit IS-Kämpfer in Scharen in die Türkei zurückkehren, ist die Terrorgefahr im Land sprunghaft angestiegen. Obwohl die Sicherheitskräfte in den vergangenen Wochen und Monaten mit einer Reihe von Razzien gegen Extremisten und suspekte Onlineforen, Einreiseverboten und einer Verhaftungswelle viel daran gesetzt haben, die Gefahr zu bannen, kamen die Aktionen zumindest in Suruç zu spät. In der Stadt, kaum zehn Kilometer von der Grenze entfernt und Standort eines großen Flüchtlingslagers, hat sich ein Schreckensszenario von Erdoğan, Davutoğlu und Co. erfüllt.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.07.2015)

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