Die Lehre des Pop: Wir sind alle Girls und Boys, und das ist gut so

Aelteres Ehepaar / Older married couple
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"What a drag it is getting old", sang Mick Jagger – und wurde bis heute nicht erwachsen. Über die Neotenie in der Jugendkultur.

14, 15, 16, 17. In „When I Grow up (To Be a Man)“ von den Beach Boys zählt der Chor die Jahre. 18, 19, 20, 21. Und so weiter. Es hört mit 32 auf, und mit der traurigen Zeile: „Won't last forever.“ Dieser Song, 1964 erschienen, drückt bis heute die Ambivalenz des Erwachsenwerdens in einer Zeit, in der die Jugend die Kultur bestimmt, perfekt aus: „Will my kids be proud – or think, their old man is really a square?“, singen die Beach Boys. Die schlimmste Zukunftsvision: square, also das Gegenteil von hip, zu sein. Will man da wirklich erwachsen werden?

The Who sagten ein Jahr später, 1965, dezidiert Nein. Zumindest zum Altwerden: „Hope I die before I get old“, stotterte Roger Daltrey, heute 71, in „My Generation“. Das wurde zu Recht als Fanal verstanden, als Kampfansage der Jungen gegen die Alten, die, wie Daltrey sang, so entsetzlich kalt wirken. Der „Young Man Blues“ des Jazz- und Bluessängers Mose Allison habe ihn inspiriert, sagte Pete Townshend, Texter und Denker der Who. Tatsächlich erhebt schon dieser Song aus den Fifties die Anklage: „The old man, he's got all the money, but the young man ain't got nothin' in the world these days.“

Das sollte sich ändern. Mit dem Rock'n'Roll, spätestens aber in den Sixties wurde die Jugend, die Adoleszenz, zum zentralen Lebensalter erklärt. Mit eigenen Sitten, eigener Sprache, eigener Kultur: der Jugendkultur, die heute alle zwischen zehn und 80 für sich beanspruchen. „What a drag it is getting old“, sang Mick Jagger 1966. Heute ist er 72. Er ist alt. Ist er erwachsen?

Nicht in dem Sinn, in dem man erwachsen war, als Jagger jung war. Ob man das gut findet oder nicht, es ist eines der großen Erfolge des Pop, dass er die Zäsur erschüttert hat, nach der der Ernst des Lebens beginnen soll. Also Devise Spaß. „Fun is the one thing that money can't buy“, ließen die Beatles in „She's Leaving Home“ ihre Ausreißerin sagen; ein halbes Jahrhundert später singen Fünfzigjährige mit, wenn auf einer Party „Girls Just Want to Have Fun“ von Cindy Lauper gespielt wird. Ja, sie sind Girls, und die Männer sind Boys, lebenslänglich. Man kann darüber spotten, man kann dagegen polemisieren, aber man sollte bedenken: Neotenie, also das Behalten typisch jugendlicher Züge über die eigentliche Jugend hinaus, ist auch in der Evolution ein Motor des Fortschritts. Menschen sind jungen Schimpansen ähnlicher als alten; und ein alter Mann, der heute hip ist, ist den jungen Männern der Sixties ähnlicher als den Alten von damals.


Old Man. Aber die Verantwortung? Die Elternrolle? Keine Sorge. Man muss nur am Sonntag in einen Park gehen und sehen, wie viele Männer heute ganz bewusst und aktiv Väter sind. Oder bedenken, dass es heute – im Gegensatz zur „guten alten Zeit“ – völlig verpönt ist, Kinder zu schlagen. „Old man, look at my life“, sang Neil Young 1972, „I'm a lot like you were.“ Oder besser.

Die deutsche Band Tocotronic, die früher so hingebungsvoll jung & unvernünftig war, singt in ihrem aktuellen Song „Die Erwachsenen“: „Man kann den Erwachsenen nicht trauen, ihr Haar ist schütter, ihre Hosen sind es auch.“ Die Musiker von Tocotronic sind heute 44. „Won't last forever.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.07.2015)

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