Nach der Bombardierung von PKK-Stellungen im Nordirak kündigten die kurdischen Kämpfer der türkischen Regierung den Waffenstillstand auf.
Die Ankündigung war kurz, doch könnte sie in ihrer Schärfe schwere Folgen für das ohnehin fragile türkisch-kurdische Verhältnis haben. „Der Waffenstillstand hat nach den intensiven Luftschlägen durch die türkische Okkupantenarmee keine Bedeutung mehr.“ Die kurdische Arbeiterpartei PKK, in der Türkei als terroristische Organisation eingestuft, publizierte diese Worte am Samstag auf ihrer Website.
Seit Freitagfrüh hat die türkische Luftwaffe wiederholt Angriffe auf Unterstände und Waffenlager der kurdischen Kämpfer im Irak geflogen. Auch die Kandil-Berge, wo die PKK-Führung ihr Hauptquartier hat, wurden bombardiert. Neben Luftangriffen soll es auch zu Artilleriebeschuss durch türkische Bodentruppen gekommen sein. Die Angriffe, die sich gegen die PKK und die Terrororganisation Islamischer Staat (IS) richten, gingen Samstagfrüh weiter. „Die Operation wird fortgesetzt“, sagte der türkische Präsident, Recep Tayyip Erdoğan, der die Einrichtung einer „Schutzzone“ ankündigte. Einen Zeitrahmen nannte er nicht.
Unter dem Etikett der „Antiterroroperation“ ist Ankara nach einer langen Zeit des Zusehens offenbar entschlossen, mit militärischen Mitteln gegen die Sicherheitsbedrohung an der südlichen Flanke vorzugehen. Dass man darunter sowohl den IS als auch die „separatistische Terrororganisation“ PKK und ähnliche Vereinigungen verstehe, machte Erdoğan unmissverständlich klar. Schon im vergangenen Oktober hatte der Präsident die PKK und den IS als „Terroristen“ gleichgesetzt.
Ankaras Militäreinsatz scheint dem Kalkül zu folgen, quasi „in einem Aufwaschen“ gleich mehrere Störenfriede aus der Welt schaffen zu wollen. Die türkisch-kurdische Aussöhnung spielt offenbar nur noch eine nachgeordnete Rolle. Darauf deuten auch Prozesse im Inneren der Türkei hin: Landesweit wurden fast 600 mutmaßliche Mitglieder des IS und der PKK festgenommen. In Istanbul untersagten die Behörden eine für Sonntag geplante Demonstration der prokurdischen Partei HDP. Zur Begründung hieß es vonseiten der Stadtverwaltung, es müsse mit „starkem Verkehr“ gerechnet werden, zudem seien die Sicherheit gefährdende „Provokationen“ zu befürchten. Die HDP, die die Bombardements auf PKK-Lager verurteilte, hatte zu einem „Friedensmarsch“ aufgerufen. Auch der Präsident der Kurdischen Autonomieregion im Nordirak, Massoud Barzani, verlangte ein Ende der türkischen Luftangriffe gegen die PKK, berichtete die Nachrichten-Website Bas News.
Racheaktionen der PKK. Vertreter der Opposition und kurdische Aktivisten fühlen sich seit Freitag in einem Verdacht bestätigt, den sie schon länger hegen: Die türkische Regierung halte den IS nur für ihr zweitgrößtes Problem. Es gibt Indizien, die nahelegen, dass die türkischen Behörden den IS in ihrer Nachbarschaft insgeheim unterstützen bzw. zumindest dulden: Verwundete Kämpfer würden in türkischen Krankenhäusern behandelt, die Türkei ist noch immer das wichtigste Rekrutierungs- und Transitland für die islamistischen Kämpfer. Tatsächlich hat Ankara bis zum dieswöchigen IS-Terroranschlag in der türkischen Grenzstadt Suruç, bei dem 32 Menschen ums Leben kamen, die Terrormiliz als syrisches und irakisches Problem behandelt. Unmittelbar nach dem Anschlag richtete die PKK als „Vergeltung“ zwei Polizisten in der türkisch-syrischen Grenzstadt Ceylanpinar hin, die sie der Kollaboration mit dem IS bezichtigten.
Die Racheaktionen der PKK und die gestrige Aufkündigung des seit 2013 geltenden Waffenstillstandes rücken eine Weiterführung des ohnehin stagnierenden Friedensprozesses in die Ferne. Die Aussöhnung mit den Kurden, die Erdoğans AKP im Jahr 2012 initiierte, war zuletzt ins Stocken gekommen.
Neben einer neuerlichen Häufung von Anschlägen durch die PKK und einem Klima der Repression könnte die Frontstellung auch innenpolitische Folgen haben: Nach den Parlamentswahlen vom 7. Juni konnte die AKP noch immer keinen Partner für eine Koalition finden. Eine Teilnahme der prokurdischen Partei HDP an einer Regierung war ausgeschlossen. Doch die sich zuspitzende Lage und die schwierigen Verhandlungen lassen eine Option wahrscheinlich werden, die so riskant wie attraktiv ist für Erdoğans gebeutelte AKP: die Flucht nach vorn in Neuwahlen.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.07.2015)