Demirtaş: Gemäßigter Kurde ist Erdoğans gefährlichster Gegner

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Selahattin Demirtaş, der Chef der prokurdischen HDP, fordert eine sofortige Waffenruhe – sowohl von der PKK als auch von Ankara.

Wien/Ankara. Selahattin Demirtaş reagiert nicht so, wie es sich die türkische Regierung entweder erwartet oder gewünscht hätte: Seit Tagen redet der Ko-Chef der prokurdischen Demokratischen Partei der Völker (HDP) bei seinen öffentlichen Auftritten von Frieden, davon, dass die verbotene PKK endlich die Waffen niederlegen solle und sich kein Mensch in der Türkei einen Rückfall in die vergangenen Jahrzehnte wünsche, als sich Kurden und Türken, Linke und Rechte gegenseitig bis auf das Äußerste terrorisiert haben. Anstatt über die PKK-Morde, die in den vergangenen Wochen verübt wurden, Stillschweigen zu bewahren – so war man es schließlich von den bisherigen Kurdenparteien gewohnt –, spricht Demirtaş von den Opfern als „unsere Brüder“. Er fuhr in die Provinz Van, besuchte den Vater eines ermordeten Soldaten und sicherte ihm seine Unterstützung zu. Demirtaş tut alles, um der regierenden AKP von Präsident Recep Tayyip Erdoğan keine Angriffsfläche zu bieten.

Bei den jüngsten Wahlen im Juni hat die AKP die absolute Mehrheit eingebüßt und die HDP die für den Einzug ins Parlament notwendige Zehn-Prozent-Hürde überschritten. Dass eine Kurdenpartei derart schnell und durchgreifend Zustimmung in der Bevölkerung erntet, ist ein neues Phänomen, zumal an den kurdischen Parteien immer der PKK-Terror haften geblieben ist. Auch jetzt muss sich die HDP Vorwürfe gefallen lassen, dass sie sich nicht ordentlich von den kurdischen Rebellen abgrenze. Der Grat für Demirtaş ist in diesem Fall denkbar schmal: Er hat sich von den Morden distanziert, hält sich aber die Gesprächskanäle zur PKK offen, weil seine Wählerschicht nun einmal auch hier zu finden ist – und auch, weil er allein keine Waffenruhe ausrufen kann. Vergangene Woche ist Demirtaş spontan nach Brüssel geflogen, um dem Vernehmen nach mit ranghohen PKK-Mitgliedern zu konferieren.

Für die AKP ist die prokurdische Partei direkt in die Gewaltwelle involviert, die die Türkei derzeit erschüttert. Seit Juli, seit dem mutmaßlich islamistischen Terroranschlag im südtürkischen Suruç mit 33 Opfern, hat Ankara den Zweifrontenkonflikt eröffnet: Zeitgleich geht die Regierung gegen Islamisten und kurdische Rebellen vor, wiewohl der Fokus bisher auf den Kurden gelegen ist. Beobachter kritisieren, dass Ankara den fragilen Friedensprozess, den es selbst eingeleitet hat, zerstört, um politisches Kapital daraus zu schlagen. Noch immer steht keine Regierung, und bei Neuwahlen könnte sich die AKP als Fels in der Brandung positionieren. Zwar hat Erdoğan den Friedensprozess mit den Kurden für beendet erklärt, offenbar gehen die Gespräche mit dem inhaftierten PKK-Chef, Abdullah Öcalan, aber weiter.

Von Gezi-Protesten profitiert

Demirtaş, Jurist und Experte für Menschenrechte, ist eine komplett neue Art Gegenspieler für Erdoğan: Er kann ihm rhetorisch das Wasser reichen, ist gleichermaßen gewitzt und beliebt. Im Gegensatz zu anderen kurdischen Politikern bekennt er sich zur Republik und dem Erbe des Staatsgründers, Atatürk. Mit der HDP ist ihm gelungen, woran viele vor ihm gescheitert sind: die Partei aus der kurdischen Ecke herauszubekommen. Vertreter von ethnischen und religiösen Minderheiten sind in der HDP ebenso zu finden wie Homosexuelle und Umweltschützer. Die Diversität ist sicherlich auch den Gezi-Protesten geschuldet, von denen die Partei profitiert hat.

Ob sich Demirtaş mit Reden für Frieden und Versöhnung retten und eventuelle Neuwahlen überstehen kann, ist keinesfalls gesichert. Offiziell will Ankara nicht von einem Parteiverbot sprechen – so haben vergangene Regierungen oft unliebsame Gegner ausgeschaltet –, aber gegen Demirtaş und seine Ko-Vorsitzende, Figen Yüksekdağ, wurden Verfahren eingeleitet. Die Vorwürfe lauten: Anstachelung zu Gewalt sowie Propaganda für Terrororganisationen. Erdoğan selbst will ebenfalls gegen Demirtaş vor Gericht ziehen.

Die Appelle des Kurdenpolitikers, Ankara solle die Angriffe auf PKK-Stellen einstellen, werden von seinen Gegnern als Indiz interpretiert, dass er mit den Rebellen unter einer Decke stecke. Demirtaş selbst kontert damit, dass die AKP sich bisher auch zu wenig abgegrenzt hat, und zwar von den islamistischen Extremisten.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 11.08.2015)

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