Gewaltwelle: Türkei im Zangengriff des Terrors

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Selbstmordattentat vor Polizeiwache in Istanbul, Schüsse auf US-Konsulat, Sprengstoffanschlag in Südostanatolien: Kurdische, linksextreme und auch islamistische Terroristen bedrohen das Urlaubsland.

Istanbul. Zehn Tote innerhalb weniger Stunden: In der Türkei eskalieren Anschläge sowie Gefechte zwischen Extremisten und Sicherheitskräften. Die neue Welle der Gewalt, die seit drei Wochen rollt und die aus mehreren Quellen gespeist wird, erfasst das ganze Land. Viele befürchten, dass es noch schlimmer kommen wird.

Früher Morgen im Stadtteil Sultanbeyli im asiatischen Teil der Metropole Istanbul: Schwer bewaffnete Polizisten an einem gepanzerten Fahrzeug geraten unter Beschuss und erwidern das Feuer. Die Szenen, die von den Kameras der Nachrichtensender festgehalten werden, wirken wie Bilder aus einem Kriegsgebiet. Und das ist Istanbul ab sofort wohl auch. In Sultanbeyli hatte ein Selbstmordattentäter in der Nacht eine Autobombe vor einer Polizeiwache gezündet. Wenige Stunden später eröffneten mindestens zwei Angreifer im Morgengrauen am Tatort in Sultanbeyli das Feuer auf die Beamten der Spurensicherung. Polizisten wie jene hinter dem gepanzerten Fahrzeug lieferten sich ein heftiges Gefecht mit den Tätern. Am Ende waren die beiden Angreifer und ein Polizist tot.

Fast zeitgleich mit dem Überfall auf die Spurensicherung schießen zwei Frauen rund 20 km nördlich von Sultanbeyli mit Gewehren auf den stark gesicherten Gebäudekomplex des US-Generalkonsulats im Stadtteil Istinye auf der europäischen Seite der 15-Millionen-Stadt. Die beiden können zunächst fliehen, doch wird eine Frau von Polizisten angeschossen und verletzt festgenommen. In Medienberichten wird sie als Kämpferin der linksextremen Gruppe Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front (DHKP-C) identifiziert. Ob die DHKP-C auch den Anschlag auf die Polizisten in Sultanbeyli verübt hatte, stand am Montag noch nicht fest. Vor zwei Jahren hatte sich ein Selbstmordattentäter der DHKP-C in der amerikanischen Botschaft in Ankara in die Luft gesprengt.

Schwere Straßenkämpfe in Silopi

Doch nicht nur die Gewalt am Bosporus erschüttert die Türkei an diesem Tag. Im südostanatolischen Silopi tötet ein im Straßengraben versteckter Sprengsatz der PKK-Kurdenrebellen vier Polizisten in ihrem Fahrzeug. Ein paar Kilometer weiter nördlich schießt die PKK mit einer Panzerfaust auf einen Militärhubschrauber und tötet einen Soldaten. In Silopi liefern sich Kurden und türkische Sicherheitskräfte seit Tagen schwere Straßenkämpfe, bei denen mehrere Menschen ums Leben gekommen sind.

Die PKK begründet die neue Gewalt mit der Haltung der türkischen Regierung im Syrien-Konflikt: Ankara unterstütze dort die Extremisten des Islamischen Staates (IS), um eine kurdische Autonomie in Nordsyrien zu verhindern. Der Selbstmordanschlag eines IS-Aktivisten in der Stadt Suruç am 20. Juli, bei dem 33 Menschen starben, wurde von der PKK als Beweis für die angebliche Zusammenarbeit zwischen der Türkei und dem IS gewertet. Die Kurdenrebellen haben ihren Waffenstillstand mit Ankara aufgekündigt und töten seitdem wieder fast täglich Polizisten und Soldaten. Ankara reagiert mit Luftangriffen auf PKK-Stellungen im Nordirak.

Noch einer weiteren Bedrohung sind die Türken in diesen Tagen ausgesetzt: Die Terrormiliz IS hat erst am Wochenende erneut mit Anschlägen in der Türkei gedroht. Die Jihadisten betrachten die Türkei als legitimes Ziel für Gewalttaten, weil die Türken sich mit den USA zusammengetan haben: Die US-Luftwaffe darf ab sofort von türkischen Stützpunkten aus den IS in Syrien angreifen. Kampfdrohnen der USA haben bereits erste Angriffe ausgeführt. Am Wochenende verlegten die Amerikaner nun die ersten sechs F-16-Kampfjets auf die türkische Basis Incirlik, die nur 80 Kilometer von der syrischen Grenze entfernt ist.

Touristen im Fadenkreuz?

Im Fadenkreuz der linken, kurdischen und islamistischen Extremisten stehen nicht nur Regierungseinrichtungen und die Sicherheitskräfte, sondern das ganze Land. DHKP-C, PKK und IS haben bewiesen, dass sie auch zivile Opfer in Kauf nehmen. So verübte eine Suborganisation der PKK in den Nullerjahren auch Anschläge in westtürkischen Urlaubsorten. Hinweise auf eine neue Gefahr für Türkei-Touristen gibt es derzeit nicht, doch spricht die Regierung von einer neuen Terrorallianz, die das Land bedrohe.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 11.08.2015)

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