Flüchtlinge: Tschechiens große Angst vor dem Unbekannten

(c) REUTERS (PETR JOSEK)
  • Drucken

2000 Akademiker protestieren gegen grassierende Fremdenfeindlichkeit. Die große Mehrheit lehnt Aufnahme von syrischen Flüchtlingen kategorisch ab.

Prag/Wien. Der Weltuntergang also. „Apokalypsa“ prangte kürzlich als Schlagzeile in der größten Boulevardzeitung des Landes, „Blesk“. Es geht um zu erwartende Flüchtlingsströme und ein Interview mit Miloš Zeman zum Thema. „Niemand hat euch hierher eingeladen“, sagt der Staatschef im Interview über Flüchtlinge. Gegen die Allianz aus sensationslüsternen Medien und populistischen Politikern regt sich nun Protest an Tschechiens Universitäten; ein Manifest „Akademiker gegen Angst und Gleichgültigkeit“ macht die Runde.

In dem Papier wird die „stark zunehmende Fremdenfeindlichkeit in der Gesellschaft“ angeklagt, aber vor allem das Verhalten „vieler Politiker und Journalisten“, die sich einer Sprache bedienten, die „früher als extrem und inakzeptabel“ gegolten habe. So würden Migranten mitunter „als Pest und Parasiten bezeichnet, die das Sozialsystem aussaugen oder gar morden und vergewaltigen wollen“. Muslime würden mit Terroristen in einen Topf geworfen. Die Debatte „bilde dabei nicht die Realität ab, sondern den Verlust der Humanität und der Zurechnungsfähigkeit unserer eigenen Gesellschaft“, ist zu lesen. Dann gibt es ein paar Appelle an die Bevölkerung, nicht allen Gerüchten zu glauben, an Medien und an Politiker, nicht mit den Tragödien anderer politisches Kleingeld zu machen.

Mehr als 2000 Akademiker haben das Manifest bis gestern Nachmittag unterschrieben, vom Theologen und Templeton-Preisträger Tomáš Halík bis zum Philosophen und früheren Dissidenten Jan Sokol. Und doch dürfte der Aufruf trotz allen Aufsehens bald verhallen.

Anteil der Muslime im Promillebereich

Wie ein Gespenst geht der Islam durch das mehrheitlich atheistische Tschechien. Der Anteil der Muslime liegt im unteren Promillebereich: Schätzungen zufolge 11.000 der 10,5 Millionen Einwohner. Von den 355 neuen Asylwerbern im ersten Quartal dieses Jahres kamen die meisten aus der Ukraine (175), gefolgt von Kubanern (85). Erst an dritter Stelle liegen die Syrer, es waren 20 an der Zahl.

„Es ist eine Angst vor dem Unbekannten“, sagt Martin Buchtík zur „Presse“. In einer Umfrage hat sein Prager Center of independent public research erhoben, dass mehr als 70 Prozent der Tschechen die Aufnahme von Flüchtlingen aus Nordafrika und Syrien kategorisch ablehnen. Die Bilder von den Flüchtlingslagern dürften sich in den Köpfen vieler auch mit jenen der Roma-Siedlungen vermischen, die in Tschechien noch immer nicht wohlgelitten sind. Das vermutet auch Václav Horejsí. Der Molekularbiologe hat das Manifest unterschrieben. 90 Prozent der Reaktionen seien negativ gewesen, sagt er zur „Presse“. „Sie haben ja genug Geld, aber wir ärmeren Menschen werden leiden“, hätten ihm viele sinngemäß an den Kopf geworfen. „Ich denke, jene, die ganz unten in der Gesellschaft stehen, brauchen jemanden, auf den sie herabblicken können“, sagt der 65-Jährige. Auch er meint: „99 Prozent der Tschechen haben noch nicht einen Muslim oder Flüchtling zu Gesicht bekommen.“ Deshalb seien sie für Agitation anfällig.

Doch der Graben verläuft auch durch die Universitäten. An die Spitze der Bewegung „Wir wollen keinen Islam in der Tschechischen Republik“ hat sich Martin Konvička gesetzt, Naturwissenschaftler in Budweis. Auf Facebook soll der Universitätsdozent mitunter über „Konzentrationslager für Muslime“ laut nachdenken. Das Logo seiner Initiative, die nun auch in Regionalparlamenten Fuß fassen will, ist eine durchgestrichene Moschee. Fast 150.000 Facebook-Nutzern gefällt das. Auch Zeman hat in einem Interview schon Unterstützung bekundet. Der Protest der Akademiker gegen die Fremdenfeindlichkeit wird in der Prager Burg dagegen als Unkenruf aus dem Elfenbeinturm der Wissenschaft abgetan: „Diese Aktivität vertieft nur den Graben zwischen den sogenannten Eliten und der Gesellschaft“, sagt Jiří Ovčáček, Zemans Sprecher.

Die da oben gegen die da unten also. „Genau das wollen wir aber nicht“, sagt Anna Vanclova; die 25-jährige Doktorandin und wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Prager Karls-Universität hat das Manifest initiiert. „Das ist auch keine Pro-Einwanderungs-Petition, sondern ein positiver Aufruf zum Dialog. Wir haben Verständnis für die Ängste der Menschen, aber nicht dafür, dass damit gespielt wird“, sagt sie. Das Manifest solle das Gift aus der Debatte nehmen. Zumindest Jiří Dienstbier, Menschenrechtsminister der regierenden Sozialdemokraten, hat die Initiative offen unterstützt. Er klagte gestern in einem Interview über die „völlig übertriebene Hysterie“ im Land.

Verstärkte Kontrollen im Grenzraum

Während die Debatte über den Aufruf der Akademiker läuft, verschärft Prag die Kontrollen im Grenzraum. Der Generalstab der Armee muss gar Berichte dementieren, wonach er Reservisten zur Verteidigung der Grenzen gegen illegale Migranten heranziehen wolle. Die Zeitung „Lidové noviny“ hatte berichtet, dass erste Vorbereitungen für ein militärisches Manöver im Gange seien.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.08.2015)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:

Mehr erfahren

GERMANY FRANCE DIPLOMACY
Europa

Paris und Berlin: Viel Geld für gemeinsame Asylpolitik nötig

Innenminister wollen EU-weite Definition sicherer Herkunftsstaaten und Aufnahmezentren an Außengrenzen.
Mehrere tausend Flüchtlinge hatten unter freiem Himmel an der griechisch-mazedonischen Grenze gewartet.
Außenpolitik

Mazedonien: Vorrang für bedürftige Flüchtlingsgruppen

Nur noch wenige Flüchtlinge dürfen in Mazedonien einreisen. Hinter Stacheldraht verschanzte Polizisten feuerten Tränengas auf Flüchtlinge.
Außenpolitik

Wie Schweden mit Flüchtlingen umgeht

Das skandinavische Land nimmt in der EU pro Kopf die meisten Flüchtlinge auf. Die Versorgung der Schutzsuchenden steht auf hohem Niveau. Doch zugleich erhalten die rechtspopulistischen Schwedendemokraten immer mehr Zulauf.
Antonio Guterres: "Migration ist Teil der Lösung von europäischen Problemen."
Europa

Flüchtlinge: UNO rügt "Situation des Leugnens" in EU

UN-Flüchtlingskommissar Guterres hat die EU aufgefordert seine Einstellung zu Einwanderung zu überdenken. Die Flüchtlingsdiskussion sei zu emotional.
Außenpolitik

Calais: Gegen Schlepper am Eurotunnel

Paris und London haben sich auf ein gemeinsames Vorgehen geeinigt. Mit einem Kontrollzentrum in Frankreich sollen Schlepperbanden ausgeforscht werden.

Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.