Türkische Nationalisten attackierten Dienstagabend Büros der prokurdischen HDP. In Istanbul wurde die zweite Nacht in Folge die "Hürriyet"-Redaktion terrorisiert.
Die Auseinandersetzung zwischen der türkischen Regierung unter Präsident Recep Tayip Erdogan und der verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans wird zunehmend auf die Straße getragen. Die jüngsten zwei schweren PKK-Angriffe auf türkische Soldaten im Osten und Südosten des Landes ließ die Wut im nationalistischen Lager über dutzende kurdische "Märtyrer" am Wochenende überkochen. Der aufgestachelte Mob geht in Selbstjustiz gegen Kurden vor.
Aufgebrachte Demonstranten haben Dienstagabend die Zentrale der pro-kurdischen Oppositionspartei HDP und den Redaktionssitz der Zeitung "Hürriyet" angegriffen. In Ankara marschierten Dutzende Nationalisten zum HDP-Sitz, wie Bilder des Fernsehsenders CNN-Türk zeigten. Sie warfen mit Steinen und rissen das Parteizeichen an dem Gebäude ab.
Ausgerechnet über den Kurznachrichtendienst Twitter hat Recep Tayyip Erdogan am Dienstagabend sein Volk "während des Kampfes gegen den Terror" ermahnt, die Ruhe zu bewahren und "Kaltblütigkeit" zu zeigen. Die Staatsbürger sollten sich nicht zu Provokationen hineinziehen lassen, erklärte er. Es sind noch 52 Tage bis zur am 1. November angesetzten Neuwahl des Parlaments. In acht Distrikten im Südosten gelten Ausgangssperren, einige sollen bis zum März des Folgejahres aufrecht bleiben.
Seit Sonntag 128 HDP-Büros attackiert
"Unsere Zentrale wird angegriffen, aber die Polizei erfüllt nicht ihre Pflicht", hieß es in einer Mitteilung der HDP über den Kurznachrichtendienst Twitter. Ein Fotograf der Nachrichtenagentur AFP sah Rauch über dem Gebäude in der Hauptstadt aufsteigen. Die Polizei trieb die Randalierer schließlich auseinander. In den sozialen Netzwerken veröffentlichte Fotos legten nahe, dass die Räume der Parteizentrale bei dem Angriff schwer verwüstet wurden.
In der südtürkischen Stadt Alanya wurde der örtliche HDP-Sitz in Brand gesetzt. Auch in mindestens sechs anderen Städten seien HDP-Büros von Demonstranten beschädigt worden. Insgesamt 128 Parteibüros der prokurdischen Partei wurden seit Sonntag attackiert. Nationalisten werfen der HDP vor, der politische Arm der PKK zu sein. Seit dem Ende der Waffenruhe zwischen der türkischen Regierung und der PKK Ende Juli liefern sich Sicherheitskräfte und die Rebellen täglich Gefechte.
"Hürriyet"-Redaktion mit Steinen beworfen
In Istanbul belagerten am Dienstag Anhänger der türkischen Regierungspartei AKP erneut die Redaktion der "Hürriyet". Zunächst hätten sich etwa hundert Menschen vor dem Gebäude versammelt und sangen den Namen von Staatschef Recep Tayyip Erdogan sowie "Gott ist groß", berichtete die Zeitung auf ihrer Website. Dann hätten sie das Redaktionsgebäude mit Steinen beworfen und sich gewaltsam Zutritt verschafft. Die Polizei habe die Demonstranten zurückgedrängt, die dann erneut in Slogans die AKP priesen.
Bereits am Sonntagabend hatten etwa hundert AKP-Anhänger das Redaktionsgebäude gestürmt. Auslöser war offenbar eine Twitter-Meldung der "Hürriyet" über Erdogans vorherige Äußerung: "Wenn eine Partei 400 Sitze bei den Wahlen bekommen hätte und die erforderliche Stimmenzahl im Parlament für eine Verfassungsänderung erreicht hätte, wäre die Lage anders." Die Zeitung stellte in ihrem Tweet diese Äußerung in Zusammenhang mit einem Angriff der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) auf türkische Soldaten in Daglica in der Provinz Hakkari. Später löschte sie den Eintrag.
Erdogan hatte in der Vergangenheit wiederholt die Mediengruppe Dogan kritisiert, zu der "Hürriyet" gehört. Die Angriffe auf die Zeitung erfolgten inmitten wachsender Sorge über Einschränkungen der Pressefreiheit in der Türkei.
Konflikt flammte im Juni wieder auf
Die Auseinandersetzung zwischen AKP und PKK flammte nach langen Friedensverhandlungen diesen Juni wieder auf. Nach dem Einzug der prokurdischen HDP ins Parlament bestand die Waffenruhe der Türkei mit der PKK nicht einmal mehr am Papier. Aber erst mit dem blutigen Anschlag am 20. Juli im türkischen Suruc, die der Jihadistenmiliz IS zugeschrieben wurde, ist sie endgültig zerbrochen. Die PKK erschoss zwei Polizisten in der Provinz Sanliurfa, als Rache für deren angebliche Kollaboration mit dem IS.
Kurz darauf startete die türkische Armee eine Doppeloffensive gegen die IS-Miliz sowie die PKK. Bisher richteten sich die Luftangriffe aber so gut wie ausschließlich gegen PKK-Stellungen im Südosten der Türkei und im Nordirak. Als Reaktion darauf verübte die PKK wieder zahlreiche Anschläge auf Polizisten und Soldaten, bei denen mehrere Menschen starben. In einer neuen Höhepunkt im Konflitk drangen am Montag türkische Eliteeinheit in den Nordirak ein, um Rückzugbasen der PKK aufzuspüren.
(APA/AFP/Reuters/dpa)