Der Freistaat ächzt, die Volksseele kocht

Muenchen Ein Bundespolizist vor einer Gruppe von akommenden Fluechtlingen Copyright Gehrling E
Muenchen Ein Bundespolizist vor einer Gruppe von akommenden Fluechtlingen Copyright Gehrling Eimago/Eibner
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Die Flüchtlingskrise hat Bayern an seine Grenzen gebracht. Von Freilassing bis Passau stöhnen Bürger wie Politiker über die Ausnahmesituation. Die CSU ist laut Umfragen auf einen historischen Tiefstand gerutscht.

Dunkel und bedrohlich umwabern Nebel- und Wolkenschwaden das Untersberg-Massiv jenseits der Saalach im Salzburger Land. In Kaskaden prasselt der Regen auf den Fluss, der die Städte Salzburg und Freilassing in der zusammengewachsenen Grenzregion trennt. Der Bundesadler, schwarz auf gelbem Grund, und die weiß-blauen Löwen des Freistaats Bayern auf der Saalach-Brücke künden vom Sehnsuchtsland „Germany“, dem Ziel einer langen und gefährlichen Odyssee für ein paar Dutzend Flüchtlinge, die sich in Zelten mit Tee wärmen – und an einer Dosis Mitmenschlichkeit.

Drei Stunden Wartezeit verheißt der auf olivgrüne Planen geklebte Hinweis auf österreichischer Seite, in Sechsergruppen eskortieren die vormaligen Grenzschützer die in Pelerinen gehüllten Asylwerber aus dem Orient auf bayerischen Boden. Selbst in einer Ausnahmesituation hat hier alles quasi sein Recht und seine Ordnung, von der Bundespolizei bei der Registrierung der Flüchtlinge auf dem Bahnhof und in einem zum Notquartier umfunktionierten ehemaligen Möbellager an der Freilassinger Peripherie gründlich exekutiert. Männer und Frauen sind durch Barrieren separiert. Bis zum Weitertransport in Sonderbussen in Aufnahmelager und in Sonderzügen nach Dortmund, Mannheim oder Berlin ist die Logistik durchchoreografiert. Unterstützt von einer Armada an freiwilligen Helfern haben die Behörden die Lage im Griff. Die Stimmung kippt indes.


Am Limit. Denn inzwischen macht sich allerorts Erschöpfung breit, der Freistaat ächzt unter der Flüchtlingskrise. Just in der Grenzregion, an Inn und Donau, geht das Wort von der Völkerwanderung um. Die Vorzeigerepublik, die sich so viel auf ihren Sonderstatus, ihre Strahlkraft und ihre Wirtschaftspotenz zugutehält, ist am Limit. Die Aufnahmekapazität habe ihre Grenzen erreicht, betonen reihum Bürger wie Politiker. Passé sind die Tage, da die Münchner die Flüchtlinge auf dem Hauptbahnhof mit offenen Armen und Herzen empfingen. In Bayern braut sich etwas zusammen. Die Staatspartei CSU ist laut jüngsten Umfragen auf einen Tiefstand von 43 Prozent gepurzelt, dabei machen Ministerpräsident Horst Seehofer und seine Mannen seit Wochen gegen Berlin und Angela Merkel mobil.

Eine vage Angst vor den vielen jungen Männern und eine Unsicherheit vor dem Fremden greifen um sich, vor den „Flüchtlingen im Kaftan – oder wie das heißt“, wie es die Wirtin des Wieninger Bräu in Freilassing formuliert und ihre Fragen, Zweifel und Ressentiments beschreibt. „Klar, dass man ihnen helfen muss. Aber wo sollen die alle hin? Wen lassen wir da rein in unser Land? Was passiert, wenn die Männer ihre Familien nachholen oder sich islamische Terroristen einschmuggeln?“

Von Oberbayern bis Niederbayern, von Freilassing im Berchtesgadener Land bis Passau kocht die Volksseele – und entlädt sich, da die Zelt- und Oktoberfeste vorbei sind, am Stammtisch, dem institutionalisierten Ort des Unmuts gegenüber der Obrigkeit. Häme und Ärger über den Großmut von „Mama Merkel“ und ihren „Mutti-Kulti-Kurs“ („Bild“), Pauschalurteile über Politiker und die „hinausgeschmissenen Milliarden“ machen die Runde. Es kursieren Anekdoten über Afghanen, die wie aus dem Nichts auf einer Alm aufgetaucht sind, und böse Geschichten über Raufereien und Schlimmeres in Notquartieren. „Die Medien vertuschen das alles“, lautet der Vorwurf der Frau des Polizeikommandanten, der am Küchentisch aus der Schule plaudert. „Dankbarkeit darf man sich nicht erwarten.“


„Oberkante, Unterlippe.“ Im Zollhäusl, einer traditionsreichen Gaststätte in Freilassing, hat der Bayerische Rundfunk unter dem Titel „Wie viele Flüchtlinge kann Bayern verkraften?“ zum Bürgerforum geladen, einem Stammtisch der gehobenen Art bei einer Maß Bier. Das Parteienspektrum reicht von der CSU bis zu den Grünen. Josef Flatscher, der hochwassererprobte Bürgermeister, gibt den Pegelstand der Wählerstimmung wieder: „Oberkante, Unterlippe.“ Will sagen: Die Stadt hat ihre Kapazitäten überschritten.

Die Politiker rotieren: Von den Bürgermeistern über die Landräte, die Abgeordneten, die Minister bis hinauf zum Ministerpräsidenten bekommen sie den Volkszorn zu spüren. Die Bayern fühlen sich alleingelassen mit dem „Elend der Welt“, sie appellieren an die Solidarität der anderen deutschen Länder. 225.000 Flüchtlinge haben laut einer offiziellen Statistik allein im September die bayerischen Grenzbalken passiert. Franz Meyer, CSU-Landrat in Passau, der am Domplatz residiert, bringt es auf den Punkt: „Wir haben in unserem Landkreis mehr Flüchtlinge aufgenommen als so manches europäische Land.“

Wegen der mutmaßlichen Wartezeiten, der Grenzkontrollen und der Einstellung des Zugverkehrs bleiben in Freilassing die Tagestouristen aus Salzburg aus – eine eminente Einnahmequelle. Tatsächlich döst die Fußgängerzone im Schnürlregen vor sich hin. Die Geschäftsleute im ehemaligen Shopping-Dorado der Salzburger klagen über Geschäftseinbußen von 30 bis 50 Prozent. „Mir graut schon jetzt vor dem Weihnachtsgeschäft“, lamentiert der Einzelhandelsobmann.

In Informationsveranstaltungen der Stadt, in Vorträgen über den radikalen Islam und den Salafismus oder in Diskussionen wie beim Bürgerforum im Zollhäusl – das Flüchtlingsthema ist omnipräsent, obwohl die Flüchtlinge selbst, zumeist am Rande in Notunterkünften untergebracht, aus dem Straßenbild verschwunden sind. „Wir fragen uns, wie lange das noch so weitergeht“, sagt ein ehrenamtlicher Rotkreuz-Helfer im Dauereinsatz, der sich auf gut bayerisch als „Fuchs, Stefan“ vorstellt. „Ich bin seit der ersten Stunde dabei, das ist kraftraubend.“ Der Sanitätsarzt, die Medizinstudentin, der Arabisch-Dolmetsch – ausgelaugt, am Ende der Kräfte, fallen sie allesamt in den Tenor der Überlastung ein. Für Mohammed Suleiman, den 43-jährigen Übersetzer, der bereits vor zwei Jahren nach Bayern kam, ist das Happy End nahe: Er hat hat einen Job als Zahnarzt in Potsdam gefunden.

Auch für den 15-jährigen Ibrahim hat sich der Traum von Geborgenheit und Integration einstweilen erfüllt. Eine Freilassinger Pfarrgemeinderätin hat ihn in ihren Volleyballklub und auch in ihre Familie aufgenommen: „Wir müssen als Christen zusammenrücken und über den Zaun schauen. Das ist etwas Bewegendes.“ Beispiele für gelebte Solidarität gibt es zuhauf: der Kapuzinerpater aus Altötting, der mit syrischen Buben Fußball spielt, die pensionierte Lehrerin, die Deutschkurse gibt, die privaten, mitunter via Facebook organisierten Initiativen wie „Freilassing hilft“, ohne die Caritas oder das Rote Kreuz nicht ihren humanitären Großeinsatz aufrechterhalten könnten.


Herkulesaufgabe. 130 Kilometer flussaufwärts in einem abgeschirmten Areal des Bahnhofs in Passau sieht Caritas-Sprecher Wolfgang Duschl nach dem Rechten. Während EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker einen Lokalaugenschein in der Stadt vornimmt, gibt Duschl quasi ein Merkel'sches Mantra aus: „Mit Herz und Hirn ist das zu packen.“ Deutschland, führt er an, habe durchaus Herkulesaufgaben bewältigt – die Flüchtlingsströme nach dem Zweiten Weltkrieg, die Wiedervereinigung. In der oft von Hochwasser heimgesuchten Dreiflüssestadt seien es die Bewohner gewohnt, tatkräftig mitanzupacken.

In Zweierreihen stellen sich die Flüchtlinge vor dem blau-weiß gestreiften Bierzelt zur Registrierung an, die freiwilligen Helfer haben alle Hände voll zu tun. „San die Weiberleut scho da?“, ruft ein Polizist, und Nesrin schmunzelt. Die 25-jährige Tunesierin hat als Übersetzerin eine wichtige Funktion bei der Kontaktaufnahme: „Es ist ein gutes Gefühl zu helfen, da vergisst man die eigenen Probleme.“

Klaus Schmidt, CSU-Bürgermeister von Simbach, sieht keine Option darin, so wie Ungarn einen Zaun um das Land zu errichten. Aus der Schwesterstadt Braunau strömen die Flüchtlinge seit Wochen schubweise über den Inn. „Die Österreicher machen es sich ja einfach“, sagt Schmid mit einem Seitenhieb auf die „Abschieberitis“ der Nachbarn in Oberösterreich, mit denen er sonst in bestem Einvernehmen steht.

Weiter im Norden hat sich Nebel über die Hügel des oberen Mühlviertels gelegt. In der Eisstockhalle in Julbach, in Bussen herangekarrt von der ungarischen Grenze, versorgt mit Proviant und Tipps, machen die Flüchtlinge letzte Station vor dem Marsch über Feld und Flur der grünen Grenze, wo sich in Orten wie Fuchsödt wahrlich Fuchs und Hase Gute Nacht sagen, geleitet von „Germany“-Tafeln mit schwarz-rot-goldenem Logo. „Die Österreicher sind die größten Schleuser“, entfährt es dem Bürgermeister der Grenzgemeinde Wegscheid im Bayerischen Wald. Auf den Versorgungszelten in Bayern prangt gleichwohl die Aufschrift „Herzlich willkommen“.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 11.10.2015)

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