Israel: Attacke gegen einen Unschuldigen schürt Panik

(c) AFP (JAAFAR ASHTIYEH)
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Ein 26-jähriger Eritreer geriet zwischen die Fronten und bezahlte mit seinem Leben.

Wien/Jerusalem. In Israel greift angesichts der Terrorserie junger Palästinenser Panik um sich, die gezogene Notbremse in einem Zug neulich in Haifa war nur das harmloseste Signal dieser Nervosität. An neuralgischen Punkten in der Hauptstadt und am Grenzwall hat die Regierung in Jerusalem die Militärpräsenz massiv verstärkt, um der Bevölkerung ein Gefühl der Sicherheit zu vermitteln. Polizei- und Militäreinheiten riegelten zudem Teile Ostjerusalems ab, aus denen mehrere der palästinensischen Attentäter stammten.

Dennoch liegen an den Checkpoints und Straßensperren, den Straßenbahnhaltestellen und Busbahnhöfen im Land die Nerven blank, und der Run auf Waffengeschäfte und Waffenlizenzen ist ein Beleg für die wachsende Verunsicherung. In Beersheba im Süden Israels, dem Eingangstor zur Negevwüste, entlud sich die durch die Serie an Messerattacken aufgeheizte Stimmung in der Nacht auf Montag gegen einen Unbeteiligten, einen 26-jährigen Landarbeiter aus Eritrea namens Mila Abtum.

Bewaffnet mit einem Messer und einer Pistole war ein arabischer Israeli, ein 21-jähriger Beduine aus dem Nachbardorf Hura, gegen einen Soldaten losgegangen. Nachdem er ihn tödlich getroffen und dessen Maschinenpistole an sich gerissen hatte, feuerte er in die Menge. Mindestens zehn Menschen sanken verwundet zu Boden. Schließlich machte ein Wachposten dem Terror mit einem letalen Schuss auf den Attentäter ein Ende.

Lynchmentalität

Zugleich schoss der Polizist auf Abtum, den er für einen Komplizen des Angreifers hielt. In der Folge traten und schlugen mehrere Passanten unter wüsten Schimpftiraden auf den Eritreer ein, der schließlich seinen Verletzungen erlag. Aus Angst, der Schwerverletzte könnte einen Bombengürtel zünden, ließen Sanitäter ihn in seinem Blut liegen. Wie sich herausstellte, wollte Mila Abtum indessen nur sein Visum verlängern lassen.

Via soziale Medien wühlte der Vorfall die israelische wie die palästinensische Öffentlichkeit umgehend auf. Auf beiden Seiten putschen sich die Fanatiker zu einer Art Lynchmentalität auf, in blindem Hass fordern Radikale zu Racheakten auf. In der Vorwoche bezahlte ein Israeli dafür mit seinem Leben, als ihn ein Landsmann tötete, weil er ihn irrtümlich für einen Messerattentäter hielt. Israels Premier, Benjamin Netanjahu, erklärte, niemand dürfe das Gesetz selbst in die Hand nehmen.

Auch der Checkpoint Kalandia zwischen Jerusalem und Ramallah, wo sich der Grenzwall in meterhohen grauen Betonplatten über die Hügel windet, übersät mit Steinen, Gummi- und Plastikfetzen und gefärbt von Ruß, war jüngst Schauplatz einer Messerattacke. Ein Steinewerfer in voller Aktion und ein Jassir Arafat in der Blüte seines Daseins rufen in Graffiti-Form zur Gewalt auf, die neue Grenzzäune und Mauern nun eindämmen sollen. Gegen seine Überzeugung hat Israels Ex-Premier Ariel Scharon den Wall errichten lassen, der die Kontakte zwischen Israelis und Palästinensern einerseits und den Palästinensern in Ostjerusalem und im Westjordanland andererseits erheblich eingeschränkt, aber die palästinensischen Selbstmordattentate lang reduziert hat.

„Kern des Konflikts“

Vor allem die auseinandergerissenen 28 arabischen Siedlungen in Ostjerusalem, von den Palästinensern als Hauptstadt reklamiert, in unmittelbarer Nachbarschaft zu jüdischen Siedlungen, gelten als Unruheherd. Unweit vom sogenannten French Hill, der Stätte der Hebrew University, brodelt es im ehemaligen Flüchtlingscamp Schuafat. Über die Grenzen Ostjerusalems hinaus ist es als waffenstarrende Hochburg der Drogenkriminalität und Prostitution berüchtigt.

Aus Schuafat und Jabhal Mukabher kamen die Attentäter, die zuletzt Angriffe auf Pisgat Zeev lancierten, die Bastion der ultraorthodoxen Juden im Osten Jerusalems. Steine und Brandsätze sorgen für böses Blut zwischen den verfehdeten Nachbarn, zwischen den alteingesessenen Palästinensern und den 200.000 jüdischen Neusiedlern. Begünstigt durch die Politik der Netanjahu-Regierung breiten sich die jüdischen Siedler sukzessive jenseits der grünen Linie, der Waffenstandslinie von 1967, aus und schaffen so eine neue Realität – und neue Enklaven. Mittlerweile stehen 200.000Siedler in Ostjerusalem 300.000Palästinensern gegenüber, die über einen Mangel an Schulen und Infrastruktur klagen.

„Jerusalem ist der Kern des Konflikts. Ein Labor, ein Mikrokosmos“, sagt der israelische Stadtführer Shalom Boguslawski von der Organisation Ir Amim. „Es gibt hier eine Geografie der Gewalt. Jeder kennt hier die Orte, an denen sich Anschläge ereignet haben.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.10.2015)

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