Wirtschaft: Erdoğan ist allemal besser als die Ungewissheit

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Das goldene Jahrzehnt mit Traumwachstumsraten ist seit 2014 passé. Heute stöhnt die Wirtschaft unter vielen Lasten. Aber sie stellt sich ihnen. Und glaubt, dass sie mit Erdoğans Machtfülle leichterfallen.

Wien. Wenn die „Stabilität“, für die die Türken laut Präsident Recep Tayyip Erdoğan mit der absoluten Mehrheit für seine Partei, AKP, am Wochenende votiert haben, gestern irgendwo messbar war, dann in der Wirtschaft. Die Lira, die heuer um über 25 Prozent abgewertet hatte, legte am Montagvormittag um 4,4 Prozent zu. Der Leitindex BIST der Istanbuler Börse stieg kurz nach Handelsbeginn zwischenzeitlich um 5,4 Prozent. Stellenweise kippte die Erleichterung in Euphorie. „Diese Wahlen werden die Übergangsperiode der Türkei beenden und sollten zu einer markanten Stärkung der Wirtschaft führen“, schrieb Valeria Bednarik, Analystin des Finanzdienstleisters FXstreet, in einem Statement.

In der Tat hatte die monatelange Ungewissheit seit den Wahlen im Juni doch etwas Unruhe in eine Gesellschaft gebracht, die sich über eineinhalb Jahrzehnte an die politische Monokultur der herrschenden AK-Partei gewöhnt hatte. Investoren jedenfalls hielten sich in den vergangenen Monaten mit größeren Engagements zurück.

Aber nicht nur die politische Ungewissheit bremste zuletzt. Schon zuvor war offensichtlich geworden, dass die Schwäche der globalen Wirtschaft nicht spurlos an der Türkei vorbeigeht. Auch wegen der schwächelnden Binnennachfrage und witterungsbedingt schlechterer Ernte wuchs das BIP im Vorjahr nur noch um 2,9 Prozent und wird heuer voraussichtlich leicht darüber liegen. Allemal weit weg von den durchschnittlich 5,2 Prozent Wachstum, die in den goldenen Jahren 2002 bis 2012 erzielt werden konnten. Auch die ausländischen Direktinvestitionen, die zu 40 Prozent aus der EU – und aufgrund des Energiesektors übrigens vorwiegend aus Österreich – kommen, gingen zuletzt zurück.

Starke Schläge gegen den Tourismus

Signifikant geschadet hat die schwächere wirtschaftliche Perfomance Erdoğan nie. Dies auch, weil er weitere äußere Gründe für die Verlangsamung anführen konnte. Da ist etwa noch der Krieg im Nachbarland Syrien, der in der Tat schwer auf der Türkei lastet. Mit seinen knapp 80 Millionen Einwohnern hat das Land eigenen Angaben zufolge 2,5 Millionen Schutzsuchende aufgenommen und acht Mrd. Dollar (sieben Mrd. Euro) für sie ausgegeben.

Gleichzeitig kommt weniger Geld ins Land. Gerade der Tourismus, traditionell ein Selbstläufer, macht im Moment eine schwierige Phase durch, sodass die Einnahmen aus diesem Sektor im ersten Halbjahr um neun Prozent gefallen sind. Das liegt zum einen an den Russen, die neben den Deutschen die wichtigste Touristengruppe der Türken darstellen, seit Ende 2014 aber aufgrund des Rubelverfalls stark ausfallen. Zum andern liegt es an den Sicherheitsbedenken aufgrund diverser Terroranschläge. Türkische Branchenvertreter schlagen bereits Alarm und drängen auf Maßnahmen zur Imagepolitur. Immerhin beginnen die Anbieter selbst zu diversifizieren, indem sie etwa mit dem Ausbau von Skisportdestinationen den Wintertourismus anstoßen. Und weil die Kosten niedrig, die Standards aber durchaus hoch sind, hat sich die Türkei mittlerweile in die Top Ten des globalen Medizintourismus katapultiert.

Heilsame Finanzkrise 2001

Die Bedeutung des Tourismus für die Türkei kann kaum hoch genug bemessen werden, decken die Nettoeinkommen daraus doch gut die Hälfte des Leistungsbilanzdefizits. Und Letzteres ist im Land am Bosporus generell hoch. Der Außenhandel ist das Problem: Weil die Türkei den Großteil des Bedarfs an Öl und Gas importieren muss, betrug das Handelsbilanzdefizit 2014 trotz niedrigen Ölpreises immer noch 84,5 Mrd. Dollar. Das zieht die Währung nach unten.

Was wirtschaftlich auf dem Boden bedeutet, hat das Land, dessen Bruttoinlandsprodukt etwa doppelt so groß ist wie das Österreichs, allerdings viel früher, und zwar 2001, erfahren. Damals, knapp vor dem Aufkommen der AK-Partei, hat eine hausgemachte Finanzkrise das Land erschüttert. Sie freilich war es auch, die einschneidende Strukturreformen provoziert und so den Grundstein für das goldene Jahrzehnt gelegt hat. Dazu kam, dass Erdoğan die anatolischen Provinzstädte zu eigenständigen Wirtschaftszentren aufpäppelte. Das BIP pro Kopf wuchs seither von 4565 Dollar auf 10.404 Dollar, womit das Land aber immer noch der zweitärmste Staat in der EU wäre.

Die Türkei ist bei Weitem kein ausschließlicher Agrarstaat mehr, obwohl gerade dieser Sektor massenhaft Leute beschäftigt und neben einer Reform des unternehmensfeindlichen Erbschaftsrechts vieler Modernisierungen harrt. Einen entscheidenden Beitrag zum BIP leistet neben anderen Industrien die Autoindustrie. 17 internationale Hersteller produzieren in der Türkei und machten diesen Sektor zur Nummer eins bei den türkischen Exporten. Er überholte damit den Textilsektor, der schon vor Jahren durch die Billigkonkurrenz aus Ostasien unter Druck gekommen war, neuerdings aber zurückkehrt, weil Europa die geografische Nähe und die höhere Qualität wieder zu schätzen begann.

Andernorts – im turksprachlichen Zentralasien bis nach Nordafrika – hat sich die türkische Bauwirtschaft einen Namen gemacht und sogar Monopole errichtet. Dass die Türkei auch zur großen Drehscheibe in der Energieversorgung Europas wird, scheint eine Frage der Zeit zu sein. Immerhin ist sie heuer zum fünftgrößten Handelspartner der EU aufgestiegen, die ihrerseits der wichtigste Handelspartner der Türkei ist. Das Handelsvolumen zwischen ihr und Österreich steigt seit 2012 kontinuierlich - auf 1,37 Mrd. Euro im ersten Halbjahr 2015.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.11.2015)

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