Laut Premier Tsipras läuft das Land Gefahr, zur „Lagerstätte“ für illegale Migranten zu werden. Der Rückstau wird zum innenpolitischen Problem.
Athen. Mehr als 490.000 – so viele Grenzübertritte von Flüchtlingen und Migranten hat die EU in Griechenland gezählt. Das stellt Athen vor gewaltige administrative und sicherheitspolitische Probleme. Nun beschäftigt die griechische Öffentlichkeit aber v. a. eine zweite Problematik: Seitdem Mazedonien seine Grenze für Wirtschaftsmigranten geschlossen hat, gibt es an der Grenze einen Rückstau. Er wird für die griechische Linksregierung von Premier Alexis Tsipras vom Radikalen Linksbündnis Syriza zu einem immer größeren innenpolitischen Problem.
Erst am Mittwoch sind bis zu 1800 Migranten in Bussen nach Athen verfrachtet worden – nun sitzen sie in der griechischen Hauptstadt fest, und niemand kann zurzeit sagen, was mit ihnen geschehen soll. Tsipras sagte dann auch am Freitag im griechischen Parlament, das Land laufe Gefahr, zur „Lagerstätte“ für illegale Migranten zu werden.
Die meisten dürften im Sog der großen syrischen Flüchtlingswelle ins Land gekommen sein. So reisten auch viele Wirtschaftsflüchtlinge aus Nordafrika, vor allem Marokko, über die Türkei und die Ägäis ein – in der Hoffnung, zu Fuß über die Balkanroute nach Zentraleuropa zu gelangen. Diese Menschen will Griechenland nun in ihre Herkunftsländer zurückschieben. Doch erwartet wird, dass ein Großteil in die Illegalität abtauchen und sich andere Wege suchen wird, um nach Mittel- und Westeuropa zu gelangen.
Die Grenzsperren des nördlichen Nachbarn bezeichnete Tsipras dann auch als illegal: Asylanträge müssten individuell untersucht werden, ohne bestimmte Nationen von vornherein auszuschließen.
Die Lage in der Ägäis hat sich in der Zwischenzeit, vor allem im Vergleich zum chaotischen Sommer, entspannt. Während zum Höhepunkt der Flüchtlingswelle bis zu 10.000 Grenzübertritte täglich gezählt wurden, hat sich die Zahl der Ankünfte im Dezember auf etwa 1500 bis 2000 pro Tag verringert. Das ist allerdings angesichts des Winters und des kalten Wassers noch immer eine sehr hohe Zahl.
Wieder viele Tote in der Ägäis
Erst in dieser Woche sind in der Ägäis wieder über ein Dutzend Bootsflüchtlinge ertrunken, sechs waren kleine Kinder. Die Überlebenschancen im bitterkalten Wasser sind gering. Tsipras stellte fest, dass er bislang keine Verringerung der Flüchtlingsströme von türkischer Seite feststellen könne – trotz der mit der EU vereinbarten Verpflichtung der Türkei, die Schlepper aktiver zu bekämpfen. Von den Inseln war allerdings zu hören, dass die türkische Polizei gewisse Küstenzonen gesperrt habe – das macht aber weitere, gefährlichere Ausweichrouten erforderlich.
Von den fünf Hotspots, den „Registrierungs- und Identifikationszentren“, die auf fünf Ägäisinseln eingerichtet werden sollen, ist bisher nur das Zentrum in Moria auf Lesbos in Betrieb, auch hier ist der Andrang durch das geringere Flüchtlingsaufkommen erträglich. Den Widerstand von lokalen Bürgermeistern bezeichnete Tsipras am Freitag im Parlament als Populismus. Eine Infrastruktur an Lagern sei deshalb unausweichlich, wenn die Bürgermeister nicht wollten, dass die Flüchtlinge wieder in den Inselhäfen auf der Straße übernachteten. Vor allem auf Kos gibt es offenbar Widerstände gegen den dort geplanten Hotspot.
Antwort auf die EU-Kritik
Der griechische Premier reagierte aber auch auf die Kritik aus Europa, dass die Behörden bei den Registrierungen nachlässig seien und das Land seine Grenzen nicht effizient kontrolliere. Konkret wirft die EU-Kommission Griechenland vor, dass nur etwa ein Drittel der an die 500.000 Eingereisten im Eurodac-System, der EU-Datenbank, rechtzeitig registriert worden sei.
Tsipras stellte fest, dass es an Eurodac-Geräten fehle und daher viele Flüchtlinge nach dem alten System mit Tinte registriert werden mussten. Man habe nur etwa ein Drittel der bei der EU angeforderten Geräte erhalten. Seit September gebe es aber „keinen einzigen Ankommenden mehr, der nicht registriert wurde“. Auch wurde im November eine Bande auf Lesbos ausgehoben, die massenweise Papiere gefälscht hatte.
Schließlich begrüßte Tsipras Vorschläge aus der EU, sein Land bei der Grenzsicherung zu unterstützen. Gegen den Aufbau einer europäischen Küstenwache habe er keinerlei Einwände. Eines werde man aber nicht zulassen: gemeinsame Patrouillen mit der türkischen Küstenwache.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 12.12.2015)