"Syrien ist eure Heimat, lasst sie nicht im Stich"

FLUeCHTLINGE: FUSSMARSCH NACH GRAZ
FLUeCHTLINGE: FUSSMARSCH NACH GRAZAPA/ERWIN SCHERIAU
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Anerkannter Flüchtling, aber immer noch Ausländer: Trotz positives Asylentscheids entschied sich ein 35-Jähriger für die Rückkehr in seine Heimatstadt.

Es ist eines dieser ebenerdigen Häuser, von denen es so viele in Nazareth, dem christlichen Viertel von Kamishli, gibt. Das Gebäude ist um einen großen Innenhof gebaut, in dessen Mitte ein Springbrunnen plätschert. Das Mauerwerk ist noch so breit und dick, wie es in Europa schon lang nicht mehr gebaut wird. Es macht die Hitze von über 40 Grad im Sommer und die Temperaturen um den Gefrierpunkt im Winter erträglich. Das extreme Klima ist typisch für diese Region im Nordosten Syriens entlang der türkischen und irakischen Grenze. Das Haus im Christenviertel wirkt idyllisch. Doch seine Besitzer haben es verlassen und sind, wie Hunderttausende von Syrern, nach Europa emigriert. Nur eine Tante der Großfamilie ist mit ihrem Hund geblieben. Sie dachte schon, sie müsse den Rest ihres Lebens allein verbringen.

Dann kam überraschend ihr 35-jähriger Neffe zurück. Er konnte die europäische Kultur nicht mehr ertragen. Er sei nicht der Einzige, sagt George Melke im kleinen Arbeitsraum des Hauses. „Die Flüchtlinge mussten erkennen, dass Europa alles andere als ein Paradies ist.“ Melke ist zufrieden in Kamishli. Er hat Arbeit gefunden und sich vor knapp drei Wochen verlobt. „Für mich ist es eine Pflicht, hier zu sein und mich am Aufbau einer besseren Zukunft Syriens zu beteiligen.“ Er hofft, alle Flüchtlinge würden möglichst bald den Weg zurück finden. „Syrien ist eure Heimat, lasst sie nicht im Stich!“, lautet sein Appell an die Landsleute in Europa und anderswo.

Dem jungen Melke wurde Verantwortung und politisches Bewusstsein quasi in die Wiege gelegt. Sein Vater ist ein bekannter syrischer Dissident und war vom Regime mehrfach verhaftet, misshandelt und gefoltert worden. „Er saß schon 1997 für 20 Monate im Gefängnis“, erzählt Melke. „Als 2011 die Revolution begann, holten ihn die Sicherheitsbehörden regelmäßig immer wieder ab.“ Der schlechte Gesundheitszustand seines Vaters war mit ein Grund für die Auswanderung.


Problemlose Ausreise. Am 1. Oktober 2013 verließ die Familie ihre Heimatstadt Kamishli in Richtung Libanon. In der Schweizer Botschaft in Beirut beantragten sie ihre Visa. „Problemlos“, erinnert sich Melke. Einer seiner Brüder lebe schon lang in der Schweiz, Christen bekämen generell leichter ein europäisches Visum. Die Melkes flogen direkt von Beirut aus nach Basel.

Aber dort begann nach dem Asylantrag eine „schreckliche Zeit“, wie der 35-jährige Christ behauptet. „Wir wurden von einem Internierungslager in nächste verschoben.“ In Basel sei das Reglement des Camps einer Militärbasis nahegekommen. Um sieben Uhr mussten die über 500 Flüchtlinge jeden Tag aufstehen. Um Punkt 12 Uhr habe es Mittagessen gegeben, um 19 Uhr dann Abendbrot. Vormittags und nachmittags habe man Ausgang gehabt, musste aber um 16 Uhr wieder im Lager sein. Besonders schlimm empfand die Familie die hygienischen Verhältnisse. „Ein einziges Gemeinschaftsbad für Hunderte von Menschen“, erinnert sich Melke. „Wir sind zu meinem Bruder, um dort in aller Ruhe zu baden oder zu duschen.“

Nach 23 Tagen war der „Schrecken von Basel“ vorbei und die Familie kam in ein Camp von Aaarau. „Dort lebte ich in einem Zimmer mit vier Männern aus Marokko, Tunesien und Algerien, die ständig Haschisch rauchten und sich dazu noch betranken.“ Seine Mutter und die Schwester mit zwei Kindern waren mit anderen weiblichen Flüchtlingen getrennt untergebracht.

Nach vier Monaten erhielt die Familie Bleiberecht für die Dauer eines Jahres. Sie verließen die Massenunterkunft. Doch Melke konnte sich mit der Schweiz nie richtig anfreunden. „Es ist ein völlig anderes Leben, eine ganz andere Kultur“, meint der ruhig wirkende junge Mann. „Egal, ob beim Deutschkurs oder auf der Straße, die Leute lassen einen spüren, dass man ein Flüchtling, ein Ausländer ist.“ In der Stadtverwaltung war man überrascht, als Melke seine Ausreise beantragte. Zwei Tage später saß er im Zug nach Genf. Seinen Pass bekam er eine Stunde vor Abflug. Es ging auf dem gleichen Weg zurück, auf dem er gekommen war. Zuerst nach Beirut, dann über Latakia nach Kamishli. Am 20. Mai war er zu Hause.

Im Nordosten des Landes wurde der Islamische Staat (IS) vertrieben und ist keine Bedrohung mehr. Hier regiert heute eine ethnisch und religiös übergreifende Militärallianz, die Syrischen Demokratischen Kräfte. In Kamishli gibt es Benzin, Wasser, Strom und Waren auf den Märkten. „Ich weiß, für andere Syrer mag eine Rückkehr ungleich schwieriger sein“, gibt George Melke zu, „aber wir können doch nicht ein leeres Land zurücklassen.“

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("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.12.2015)

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