Wenn ein Seriensieger offenbar das Skispringen verlernt

Schlierenzauer sucht das Glück.
Schlierenzauer sucht das Glück.(c) GEPA pictures
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Gregor Schlierenzauer, 25, nimmt seine 10. Vierschanzentournee unter die Sprungski, der Stubaier kehrte nach einer dreiwöchigen Auszeit ins Adlerteam zurück. Seine Formkrise gibt Anlass zu Spekulationen, sein Training mit Ex-Pointner-Assistent Nölke sorgt für Verwunderung.

„Es ist nicht immer gut, wenn man bereits alles gewonnen hat.“ Es war an sich nur ein simpler Satz, den ÖSV-Direktor Ernst Vettori im Hotel Oberstdorf zum Besten gab und so die Formkrise von Gregor Schlierenzauer erklären wollte. Doch es steckt weitaus mehr hinter dem Grübeln, der Suche nach Aufwind und dem weiterhin unbefriedigten Streben nach Glück, das den Stubaier im Skisprungzirkus gehörig plagt.

Der 25-Jährige ist höchst unzufrieden mit der Rolle des Außenseiters, Schlierenzauer ist kein Sieger mehr. Der Überflieger ist nur noch Mittelmaß und reiht sich damit vor dem heutigen Start der 64. Vierschanzentournee (17.15 Uhr, live ORF eins), die er um Haaresbreite sogar noch verpasst hätte als enttäuschender 46. der Qualifikation, nahtlos in das Schicksal etlicher anderer Allzeitgrößen ein.

Schlierenzauer ist seit März 2006 im Weltcup unterwegs, in einer filigranen, für Außenstehende kaum begreifbaren Welt mit Absprung und Telemark-Landungen. In einem Metier mit sich permanent, den Sport nachhaltig verändernden Regeln und Materialschlachten mit dubiosen Tricks wie Stabbindungen, „Stöckelschuhen“ oder luftdichten Klettverschlüssen. Dennoch war es für Schlierenzauer ein Jahrzehnt der Triumphe. 53 Weltcupsiege, WM-Medaillen, zwei Tourneesiege stehen zu Buche – damit hebt allerorts eine extreme Erwartungshaltung an und im Gegenzug eine beklemmende Enttäuschung, wenn der Adler nur hinterherflattert. Er ist seit 6. Dezember 2014 sieglos.

Irgendwann kann sich ein Skispringer nicht länger verbiegen, verändern, sein System neu aufsetzen. Irgendwann verlangt alles seinen Tribut. Körper, Stil, Material, ein Mix aus alldem. Man hat gewiss den Zenit erreicht, aus Spaß, Routine, Hingabe, Willen, Mut, innerem Feuer und womöglich fehlenden Alternativen negiert man jedoch die Option des Absprungs. Warum auch, Schlierenzauer ist erst 25 Jahre alt.

Wie Goldberger und Schmitt

Der Beispiele gibt es sonder Zahl, sie waren einst Seriensieger, bis eine klitzekleine Regeländerung ihr System über den Haufen geworfen hat und sie zu Serienverlierern wurden. Etwa Andreas Goldberger, Martin Schmitt, Sven Hannawald, Adam Malysz etc. – sie sprangen noch mit, obwohl Erfolge längst aussichtslos waren. Unvergessen ist Goldis Wehklagen: „I möcht so gern no amoi g'winna . . .“

Aufgeben ist Schlierenzauer fremd. Er nahm sich diese Saison jedoch eine Auszeit, klinkte sich für drei Wochen aus dem ÖSV-System aus, ging eigene Wege. Weg vom Springen, zurück zu den Wurzeln, der Tiroler wirkte bei der Schilderung dieser Selbstreflexion überaus glaubhaft. Doch so sehr Schlierenzauer darum bemüht war, Motivation, Willen und Glauben zu predigen, Gefühl und Coolness auszuloben oder gegen die unerhörte Aggression im Weltcup zu wettern; je mehr er erzählte, desto verwirrender wurde diese Sprechstunde. Er trainierte in Lillehammer und bat nicht Cheftrainer Heinz Kuttin, sondern den Deutschen Mark Nölke um Rat. Das ist insofern brisant, weil Nölke einst Ko-Trainer im ÖSV war, er alles von Alexander Pointner gelernt hat; just dem Trainer, mit dem Schlierenzauer nicht mehr konnte respektive wollte, an dessen ÖSV-Ende er – trotz aller Dementi – nicht unbeteiligt gewesen sein soll. Kuttin duldete es, Vettori („Eine Auszeit ist eine Auszeit“) billigte es. Dass diese Aktion einen Beigeschmack hat, ist unbestritten.

Kuttin bestätigte auf „Presse“-Nachfrage, dass Schlierenzauer die komplette Tournee bestreiten wird, ein erneuter Ausstieg nicht zur Diskussion stehe. Der Cheftrainer sagt, so eine Situation noch nie erlebt zu haben. Was sollte er denn auch anderes sagen? Ein Superstar hat unter seiner Leitung offenbar das Skispringen verlernt.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 29.12.2015)

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