"Österreich hat es versäumt, Reformen zu machen"

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Deutschland profitiert von Reformen, die Österreich nie gemacht hat, sagt Ökonom Wolfgang Wiegard. Den Mindestlohn hält das SPD-Mitglied für problematisch.

Die Presse: Warum steht Deutschland im Vergleich zu Österreich so gut da?

Wolfgang Wiegard: Ich glaube, dass die Agenda 2010 eine extrem wichtige Stukturreform war, die den Arbeitsmarkt flexibilisiert hat. Mittlerweile liegt Deutschland bei der harmonisierten Arbeitslosenquote vor Österreich. Das hat konjunkturelle Gründe. Aber auch bei der strukturellen Arbeitslosigkeit liegt Deutschland besser. Außerdem hat Deutschland viel radikalere Steuerreformen gemacht als Österreich.

Und dann gab es viele Jahre sehr moderate Lohnsteigerungen.

Ja, die Tarifpolitik hat dazu geführt, dass die deutschen Unternehmen auf den internationalen Märkten wettbewerbsfähig geblieben sind. Das waren alles sehr mutige Reformen, und deshalb wurde Gerd Schröder 2005 auch abgewählt. Gerade als diese Reformen angefangen haben zu wirken.

Sie haben damals die Regierung Schröder beraten.

Ich war Vorsitzender des Sachverständigenrats, und Schröder hatte den Mut, die von uns erarbeiteten Punkte gegen große Widerstände in seiner eigenen Partei durchzusetzen. Die Erfolge hat Merkel eingeheimst.

Und Merkel weicht mittlerweile die Reformen Schröders auf.

Die wirtschaftspolitischen Maßnahmen der jetzigen Großen Koalition in Deutschland zielen auf noch mehr Umverteilung ab. Siehe Mindestlohn, Mütterrente und die abschlagsfreie Rente mit 63. Mit Letzterem wird etwa die Rente mit 67 konterkariert, die übrigens auch von einem SPD-Politiker – von Franz Müntefering – durchgesetzt worden ist.

Bringt sich Deutschland heute um die Früchte dieser Reformen?

Ja, das wird vielerorts berechtigterweise kritisiert. Andererseits haben wir in Deutschland grundlegende Reformen gemacht, da kann man sich auch einmal Maßnahmen leisten, die auf Umverteilung abzielen. Vor allem, wenn die Wirtschaft gut läuft, und die läuft seit 2010 gut. Aber das darf natürlich kein Dauerzustand sein. Insofern muss die nächste Regierung den Hebel wieder umlegen.

In welche Richtung umlegen?

Es sind Reformen nötig, um den Wachstumspfad zu stabilisieren. Höhere Wachstumsraten als jetzt wird Deutschland als hoch entwickeltes Land ohnehin nicht erreichen. In Deutschland ist 2015 und 2016 und wohl auch 2017 ein Wachstum von 1,8 Prozent des BIPs realistisch, die Berechnungen schwanken zwischen 1,7 und zwei Prozent.

Davon kann Österreich nur träumen.

Österreich wird für 2015 ein Wachstum von 0,7 Prozent attestiert, 2016 soll es zwischen 1,3 und 1,5 Prozent liegen. Damit liegt Österreich klar hinter Deutschland. Das ist durchaus bemerkenswert, schließlich war es im vergangenen Jahrzehnt immer andersrum.

Wachstumsraten von drei Prozent wird es in Deutschland und Österreich nicht mehr geben, was ist möglich?

Ich glaube, es wird schwierig genug, die 1,8 Prozent zu sichern. Alle großen Wirtschaftsforschungsinstitute gehen von einer Potenzialwachstumsrate von 1,3 bis 1,5 Prozent aus. Das ist die Wachstumsrate, mit der eine Volkswirtschaft bei ausgelasteten Kapazitäten und ohne Aufbau von inflationärem Druck wachsen kann. Deutschland liegt also darüber. Wenn man das leisten kann, ist das ein erheblicher Beitrag zur Sicherung unseres Wohlstands.

In Österreich ist die Stimmung in der Wirtschaft schlecht . . .

In Deutschland ganz und gar nicht. Der Ifo-Index, der die Stimmung in der Wirtschaft misst, ist neulich wieder gestiegen.

Wie kann es sein, dass zwei Länder, die so viel gemeinsam haben, sich so auseinanderentwickeln?

Österreich hat es versäumt, grundlegende Reformen zu machen, die dafür sorgen, dass die Unternehmen wettbewerbsfähiger werden. Das ist in Deutschland gelungen.

Ist es aber vielleicht ohnehin müßig, über Wettbewerbsfähigkeit zu diskutieren – in Anbetracht des enormen Flüchtlingsstroms, der Deutschland und Österreich noch viele Jahre politisch und ökonomisch fordern wird?

Die nächsten Jahre werden von der Bewältigung der Flüchtlingskrise charakterisiert sein, das ist klar. Deutschland hat immerhin eine Million Flüchtlinge aufgenommen, nächstes Jahr wird es wieder eine Million sein.

Und die Integration von Flüchtlingen in den Arbeitsmarkt wird als sehr schwierig erachtet.

Die Bundesagentur für Arbeit geht davon aus, dass 70 bis 80 Prozent der Flüchtlinge über keine abgeschlossene Berufsausbildung verfügen. Überlegen Sie einmal, wie lang das dauern wird. Die Leute müssen die deutsche Sprache lernen, müssen die lateinischen Schriftzeichen lernen, müssen schrittweise an den Arbeitsmarkt herangeführt werden. Und da wird sich der Mindestlohn in Deutschland sicherlich als Bremse erweisen, das ist völlig klar.

Viele Ihrer sozialdemokratischen Kollegen sagen aber, dies sei doch nur eine Ausrede der Industrie, um den Mindestlohn schon wieder aufzuweichen.

Das sehe ich nicht so. Wir diskutieren ja längst über Ausnahmen vom Mindestlohn. Es ist doch hoffentlich jedem klar, dass einer, der über keine Qualifikation verfügt, nicht 8,50 Euro oder mehr pro Stunde verdienen kann. Wenn man von einer produktivitätsgerechten Entlohnung ausgeht, muss man für 8,50 schon über eine gewisse Qualifikation verfügen. Deswegen wird auch darüber diskutiert, ob man Flüchtlinge nicht von Anfang an wie Langzeitarbeitslose einstuft. Langzeitarbeitslose sind für ein Jahr vom Mindestlohn ausgenommen.

Das Problem mit dem Mindestlohn stellt sich aber nur für jene Flüchtlinge, die nicht im Sozialsystem hängenbleiben.

Sobald ein Asylantrag positiv beschieden wird, haben Flüchtlinge Anspruch auf Hartz IV. Hartz IV ist nicht so hoch, aber mit den Nebenleistungen sind es knapp tausend Euro im Monat – mit Kindern entsprechend mehr. Damit kann man in Deutschland keine großen Sprünge machen. Aber man muss das mit der Situation der Flüchtlinge in ihren Heimatländern vergleichen. Und da ist die Frage, wie hoch der Anreiz sein wird, sich anzustrengen und eine Berufsausbildung zu machen. Bei einem erheblichen Teil der Flüchtlinge hoffe ich, dass dieser Anreiz da ist. Aber das sind Punkte, über die man derzeit nur spekulieren kann.

ZUR PERSON

Wolfgang Wiegard ist ein deutscher Ökonom. Er war einer der fünf Wirtschaftsweisen. Als Vorsitzender des Sachverständigenrats beriet er die Regierung Schröder bei der Umsetzung der Agenda 2010. Wiegard ist SPD-Mitglied. Das Interview fand im Rahmen einer Veranstaltung der Oberbank in Wien statt. [ Pauty ]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 31.12.2015)

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