Gysi: „Ich kann bei Angela Merkel keine Strategie erkennen“

Gregor Gysi
Gregor Gysi(c) Die Presse (Clemens Fabry)
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Gregor Gysi, Galionsfigur der Linken, über die Kanzlerin und ihre Flüchtlingspolitik, sein „linkes Projekt“ und das „Duo infernale“.

Die Presse: Erleben wir in der Flüchtlingskrise gerade so etwas wie eine Kanzlerdämmerung in Deutschland, den schleichenden Sturz der Angela Merkel?

Gregor Gysi: Die Situation für sie wird tatsächlich eng. Aber die Union hat keine personelle Alternative. Theoretisch könnte man an Wolfgang Schäuble denken. Aber eigentlich muss ich mir ja nicht die Birne über die Union zerbrechen.

Sie hat gerade ihr Zehn-Jahr-Jubiläum gefeiert: Wie erklären Sie das Phänomen Merkel? Und wo liegt ihr Defizit?

Frau Merkel kommt aus dem Osten, und da ist man an sich verdächtig in der Bundesrepublik. In der Spendenaffäre haben sich die Kerle in der Union gedacht: Wir machen die Merkel, die „Mutti“, zur Vorsitzenden – und nach ein, zwei Jahren schicken wir sie nach Hause. Dann hat sie aber sie selbst nach Hause geschickt. Man soll sie nicht unterschätzen. Ihre eigentliche Schwäche liegt darin, dass ich nicht weiß, wo sie mit Deutschland und der Europäischen Union hinwill. Ich kann keine Strategie erkennen.

Fällt Merkel in der Flüchtlingspolitik die Devise „Wir schaffen das“ auf den Kopf?

Ich glaube, das ist ihr rausgerutscht. Wir dürfen nicht vergessen: Sie ist die Tochter eines Pastors. Sie kommt aus der DDR, wo Flüchtlinge einen ganz anderen Ruf hatten als in der alten Bundesrepublik. Campino, der Sänger der Toten Hosen, zum Beispiel verteidigt im Augenblick die Kanzlerin. Nur das nutzt ihr nichts: Er wählt ja trotzdem nicht CDU. Wenn sie jetzt einen anderen Kurs fährt, verliert sie Wähler an die SPD. Eines muss ich schon sagen: Im Moment ist sie in der Flüchtlingsfrage verlässlicher als die SPD.

Muss Merkel ihren Kurs revidieren?

Ein Argument hat sie für sich. Wenn die Union sich der AfD (Alternative für Deutschland) annähert, gewinnt die SPD die Stimmen zurück, die ihr Merkel weggenommen hat. Aber sie will das gar nicht, das entspricht nicht ihrem Wesen. Die AfD wird nur verschwinden, wenn die Union in Opposition geht.


Im Zuge der Flüchtlingskrise bekommen rechte Kräfte in Deutschland wie die AfD oder die Pegida-Bewegung Auftrieb. Wie gefährlich ist diese Tendenz?

Es gibt sowohl in Deutschland als auch in Österreich einen Rechtsruck. In Österreich ist das in mancher Hinsicht vielleicht noch schlimmer, in Deutschland aber gefährlicher. Die AfD ist in den Umfragen derzeit zweistellig, sie liegt vor den Grünen und den Linken. Ich fürchte, sie wird bei den Wahlen in Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt in die Landtage einziehen. Es wird heftige Auseinandersetzungen geben. Das wirbelt auch die Union durcheinander.

Wie stehen die Chancen für ein „linkes Projekt“, wie Sie es propagieren – für eine rot-rot-grüne Koalition aus SPD, Grünen und der Linken?

Wir sind dazu verpflichtet. Es geht darum: Wie halten wir die Rechtsentwicklung auf? Und nicht darum, sich in diesem oder jenem Punkt durchzusetzen. Aber alle drei Parteien werden einer solchen historischen Verantwortung derzeit nicht gerecht. Die Perspektiven für die Wahl 2017 sind nicht gut. Die SPD-Führung zögert wahnsinnig, bei den Grünen gibt es Widerstand, bei uns auch.


Ist das „Duo infernale“, das Ehepaar Oskar Lafontaine und Sahra Wagenknecht, eine zu große Hürde für eine solche Koalition?

Ich glaube, dass Lafontaine ein psychologisches Problem hat. Er glaubt sich rechtfertigen zu müssen, dass der Wechsel von der SPD richtig war. Wenn du das jeden Tag rechtfertigen musst, kannst du nicht mit der SPD zusammengehen. Da er mit Sahra Wagenknecht eine Einheit bildet – was ja gut für eine Ehe ist –, haben wir dieses Problem. Doch es gibt auch andere in unserer Partei, die immer Angst um die ideologische Reinheit haben. Man muss auch mal über den Schatten springen.

Ist die Flüchtlingsdebatte tatsächlich mit der Silvesternacht in Köln gekippt?

Das war eine Zäsur. Die Stimmung ist wirklich partiell gekippt. Wir haben es nicht für möglich gehalten, dass uns die Weltprobleme je erreichen. Wir haben alle gedacht, was in Afrika oder im Nahen Osten los ist, ist weit weg. Wir haben das Ergebnis der technischen Revolution, der Digitalisierung des Lebens unterschätzt. Es stellen sich nun große Fragen, auf die wir keine Antworten haben.

Wie lautet denn Ihre Antwort?

Wir müssen wirklich die Fluchtursachen angehen. Es geht nicht, dass Kriege so selbstverständlich sind. Die Kriege in Afghanistan, im Irak, in Libyen waren alle falsch, sie haben nichts gebracht. Die hatten vorher eine Diktatur, aber wenigstens eine funktionierende Regierung. Jetzt haben sie nichts mehr. Der Krieg in Syrien muss beendet werden. Und ja, der Westen muss auch mit Assad sprechen. Ich weiß, dass das ein Diktator ist – wie der König von Saudiarabien.

Mit der Solidarität ist es in der Flüchtlingspolitik in Europa nicht so weit her. Muss man widerwilligen Ländern mit der Streichung von Finanzmitteln drohen?

Erstens: Italien und Griechenland haben EU-Quoten für Flüchtlinge gefordert. Wer hat Nein gesagt? Die deutsche Regierung. Zweitens: Wir haben die Solidarität mit Griechenland aufgekündigt. Das war der größte Fehler von Merkel, Gabriel und Schäuble. Wenn man die Solidarität aufkündigt, kriegt man sie nicht, wenn man sie braucht. Drittens zu den EU-Quoten: Eine gerechte Verteilung der Kosten kann beschlossen werden. Wenn ein Land nicht zahlt, würde ich sie ihm abziehen.

Ist der Job des Außenministers noch Ihr Traumjob? Würde es Sie reizen, dafür in eine Regierung einzutreten?

Ich will jetzt von außen meckern. Das macht mir viel mehr Spaß.

Aber Sie brauchen doch eine Bühne – ob als Gastgeber einer Gesprächsreihe im Deutschen Theater oder in der Politik.

Ich bleibe ja politisch wahrnehmbar. Anfragen und Anträge – das ist vorbei. Ich bin jetzt Gesellschaftspolitiker und nicht an die Beschlüsse von Partei und Fraktion gebunden.

Ist Politik Ihr Lebenselixier?

Das wäre übertrieben. Frühstück ist wichtig, Beziehungen zu Frauen sind wichtig und Kinder sind noch wichtiger.

ZUR PERSON

Gregor Gysi (68) war mehr als 25 Jahre lang eine der dominierenden Figuren der deutschen Politik – als PDS-Chef,als Ko-Chef der Linkspartei zusammen mit Oskar Lafontaine, schließlich bis zum Herbst als Fraktionschef. In Wien nahm er auf Einladung dercom.sult aneiner Konferenz teil. [ Fabry ]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.01.2016)

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