„L'avenir“: Eine Frau mit Zukunft

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In der Kinoindustrie sind die Frauen unterrepräsentiert, das sieht man bei der Berlinale. Gibt es auch zu wenige spannende Rollen für ältere Frauen? Einige Filme hier sprechen dagegen, besonders „L'avenir“ mit Isabelle Huppert.

Allzu großen Grund zur Freude dürfte Meryl Streep als Jurypräsidentin der Berlinale nicht haben, wenn man ihre Äußerungen bei einer Festival-Masterclass am vergangenen Sonntag ernst nimmt. Dort monierte sie den Mangel an schwarzen und weiblichen Stimmen in der Kinoindustrie, deren Entscheidungsträger zum Großteil tatsächlich weiß und männlich sind. Auch der Berlinale-Wettbewerb fällt diesbezüglich nicht unbedingt positiv auf: Von 23 Beiträgen stammen nur zwei von (weißen) Regisseurinnen. Allerdings gehört zumindest einer davon – Mia Hansen-Løves „L'avenir“ – zu den schönsten Arbeiten des Wettbewerbs, und er bietet überdies eine anspruchsvolle Rolle für eine Grande Dame des französischen Kinos: Isabelle Huppert.

In der erwähnten Meisterklasse bekannte Streep eine frühere Befürchtung, ihre Schauspielkarriere würde nach ihrem 38. Geburtstag ein Ende nehmen. Huppert ist 62 und spielt in „L'avenir“ eine Person, die sich vergleichbaren Ängsten stellen muss: Als Philosophielehrerin und Mutter zweier Kinder führt Nathalie eine stabile und erfüllende bürgerliche Existenz. Rebellische Achtklassler, Streitgespräche mit dem Schulbuchverlag, Telefonterror durch ihre depressive Mutter (?dith Scob): nichts, was Gefahr läuft, der robusten Intellektuellen über den Kopf zu wachsen. Da wird sie völlig unerwartet von ihrem Mann für eine andere verlassen. Ein Schock, der Sorgen um die Zukunft nach sich zieht; mit 40 könne man Frauen in die Tonne schmeißen, wie Nathalie scherzt. Doch es gehört zu den Stärken von „L'avenir“, dass die große Krise ausbleibt.

Ein Film ohne Anfang und Ende

Hansen-Løve ist weniger Geschichtenerzählerin als Chronistin schleichender Veränderung. Ihre Filme haben weder Anfang noch Ende – sie bestehen nur aus Mitten, sind nach beiden Seiten offen. Alles entspinnt sich en passant, mit einem Gespür für kleine Gefühle, die auf Größeres hindeuten. Ellipsen sind häufig, und selbst schwerwiegende Lebenseinschnitte (Geburten, Todesfälle, Jobverluste) werden nicht für Dramatik gemolken. Die stetige Fließbewegung der Erzählung wird von der fluiden Kameraarbeit Denis Lenoirs ergänzt: Subtile Seitwärtsschwenks und unmerkliche Fahrten halten die Bilder auf Trab. „L'avenir“ ist eine von Hansen-Løves elegantesten Arbeiten – getragen von der unaufdringlich kraftvollen Performance Hupperts – und vermeidet viele Fallstricke des Late-Life-Crisis-Genres: Ein ehemaliger Schüler Nathalies, den sie im Zuge ihrer Sinnsuche in seiner Bauernhofkommune besucht, hätte anderswo bestimmt für eine Liebhaber-Verjüngungskur herhalten müssen – hier fungiert er eher als geistige Stütze. So erzählt „L'avenir“ vom Weitermachen und Neuausrichten, ohne Klischees von Absturz und Wiedergeburt zu bedienen.

„24 Wochen“: über Abtreibung

Auch in „24 Wochen“ von Anne Zohra Berrached geht es um eine Frau, die sich entscheiden muss, wie ihre Zukunft aussehen soll: Als die erfolgreiche Kabarettistin Astrid Lorenz (Julia Jentsch) erfährt, dass ihr Kind schwer behindert zur Welt kommen wird, steht die Möglichkeit einer Abtreibung bis zum sechsten Monat im Raum. Wie schon in Berracheds Debüt „Zwei Mütter“, der den steinigen Weg eines lesbischen deutschen Paares zur Adoption verfolgte, bedient sich der Film semidokumentarischer Mittel, um eine konkrete soziale Fragestellung darzulegen und dem Zuschauer das Urteil zu überlassen. Wir beobachten Astrid und ihren Freund Markus (Bjarne Mädel) bei Arztbesuchen und Streitgesprächen und wägen das Für und Wider jeder Option ab. Letztlich ist „24 Wochen“ etwas zu sehr von seinem eigenen kontroversiellen Potenzial überzeugt, aber als einziger deutscher Wettbewerbsbeitrag kann er sich durchaus sehen lassen.

Leider nicht im Wettbewerb zu finden ist „A Quiet Passion“, Terence Davies' berückendes Kostümdrama über das Leben der amerikanischen Dichterin Emily Dickinson (Cynthia Nixon). Präzise inszeniert und angereichert mit trockenem britischem Humor, lässt der Film Dickinsons ganzes Leben in Episoden Revue passieren, von ihren Kindheitstagen bis zum einsamen Ende.

Davies legt besonderen Wert auf die Ausdruckskraft der Sprache, die selbst in verzweifelten Momenten Trost zu spenden scheint. Nixon ist fantastisch, und so ist „A Quiet Passion“ ein weiterer Beleg dafür, dass es sehr wohl spannende Rollen für Frauen über 40 gibt – auch abseits „alter Weiber und Hexen“, wie es Meryl Streep in ihrer Masterclass formulierte.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.02.2016)

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