Der Psychothriller "Creepy" und die Dramödie "Short Stay" waren die Highlights der Berlinale-Nebenschienen.
„What's He Building in There?“, fragte Tom Waits in einem seltsamen Song auf den „Mule Variations“ und evozierte damit die Urangst vor der unheimlichsten aller Stadtmenschenarten – dem Nachbarn. Auch Kiyoshi Kurosawas Psychothriller „Creepy“, eines der Highlights der diesjährigen Berlinale-Nebenschienen, macht den Topos der Nachbarschaft zur beunruhigenden Suspense-Quelle.
Ex-Cop und Kriminalpsychologe Takakura (Hidetoshi Nishijima) hat nach einem Anschlag auf sein Leben die Dienstmarke abgelegt und ist mit seiner Frau Yasuko (Yûko Takeuchi) in eine ruhige Gegend gezogen. Ein ehemaliger Kollege sucht seinen Rat bei der Aufklärung eines alten Falls: Vor sechs Jahren verschwand eine ganze Familie unter mysteriösen Umständen aus ihrem Eigenheim, die Leichen wurden nie gefunden. Während Takakura seinen Spürsinn in Anschlag bringt, macht sich Yasuko bei den neuen Nachbarn vorstellig. Einer von ihnen, der eigenbrötlerische Herr Nishino (Teruyuki Kagawa), lässt ihr mit seinem verschrobenen Gehabe die Haare zu Berge stehen. Ihr Mann entwarnt: Psychopathen wären für gewöhnlich gerade die nettesten Leute, die sich im Alltag nichts anmerken ließen. Doch als er Nishino und dessen menschenscheuer Tochter selbst begegnet, muss er sein Pauschalurteil überdenken.
Kultregisseur Kurosawa („Cure“, „Pulse“) kehrt mit „Creepy“ zurück zu seinen Genrewurzeln. Obwohl der reißerisch-wendungsreiche Plot zum Teil etwas vorhersehbar daherkommt, überzeugt der Thriller handwerklich auf ganzer Linie. Mit einfachsten Mitteln – der Bewegung der Schauspieler im Raum, der schleichenden Änderung der Lichtverhältnisse – werden die Spannungsschrauben gnadenlos angezogen. Kagawas Performance als undurchschaubarer Widerling ist oscarreif: Nie kann man mit Gewissheit sagen, ob seine befremdlichen Gesten und Äußerungen schmeicheln, drohen oder Ungustiöses insinuieren sollen.
Schrullig. Einer anderen Art von Sonderling widmet sich Ted Fendt in seinem charmanten Einstünder „Short Stay“. Mike (Mike MacCherone) ist ein unscheinbarer Durchschnittstyp, der in einem südlichen Grätzel New Jerseys von Tag zu Tag stolpert, ohne feste Anstellung, feste Freundin oder feste Bleibe – irgendwie schafft er es aber immer, bei jemandem auf dem Boden zu schlafen. Die Inszenierung ist flott, aber unaufdringlich. Der Film lebt von schrulliger Situationskomik, die aus Witzen ohne Pointe besteht, authentischen Figuren (die allesamt von Freunden Fendts gespielt werden) und dem ungewöhnlichen Vorstadt-Lokalkolorit. Fendt hat das Geld für seine Arbeit im Alleingang aufgestellt (hauptberuflich arbeitet er als Übersetzer und Vorführer im New Yorker Lincoln Center), und es war ihm ein Anliegen, auf 16 mm zu drehen – was die Produktionskosten verdoppelte. Es hat sich gelohnt: Dieser kleine Film ist eine der großen Entdeckungen der diesjährigen Berlinale. ?
("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.02.2016)