„Europa verschließt Augen vor Gewalt in Türkei“

(c) Stanislav Jenis
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Der Abgeordnete der linken, prokurdischen HDP, Ertuğrul Kürkçü, beklagt die prekäre Menschenrechtslage in der Türkei. Die EU-Staaten fordert er auf, Ankara zur Einhaltung der Verpflichtungen zu ermahnen.

Wien. „Deutschland und die anderen europäischen Staaten sollten eigentlich die ersten sein, die die Gewalt und die verheerende Menschenrechtslage in der Türkei kritisieren. Aber sie tun das nicht“, klagt Ertuğrul Kürkçü. „Sie verschließen die Augen, weil sie hoffen, dass die Türkei die Flüchtlinge auf ihrem Weg nach Europa stoppt.“ Der türkische Sozialist Kürkçü ist Parlamentsabgeordneter und führender Funktionär der Demokratischen Partei der Völker (HDP), in der vor allem linke und kurdische Aktivisten tätig sind. Derzeit ist er in Europa unterwegs.

Im Osten der Türkei herrscht de facto Kriegszustand. Die türkische Armee geht mit Panzern gegen aufständische Städte und die kurdische Untergrundorganisation PKK vor. In Cizre und einigen Vierteln der 1,6 Millionen Einwohner zählenden Stadt Diyarbakır wurden schwere Zerstörungen angerichtet. Laut Schätzungen sind bis zu 300.000 Menschen auf der Flucht. Der Friedensprozess zwischen der Regierung und der PKK, der 2013 begonnen hat, liegt in Scherben.

„Seit Juli wurden 563 Zivilisten getötet“, sagt Kürkçü. Der HDP-Abgeordnete zählt dabei auch die Opfer der Bombenanschläge auf Anhänger der HDP und anderer linker Gruppen, wie etwa am 10. Oktober 2015 in Ankara, dazu.

„Die Türkei verletzt die Rechte ihrer Bürger. Die EU muss die türkische Regierung ermahnen, ihre Verpflichtungen einzuhalten“, fordert Kürkçü. Und die EU müsse darauf drängen, dass der Friedensprozess in der Türkei wieder in Gang gesetzt wird. Andernfalls könnte die Gewalt weiter zunehmen, fürchtet Kürkçü, der Anfang der 1970er-Jahre selbst einer militanten linken Untergrundorganisation angehört und dafür viele Jahre im Gefängnis verbracht hat.

Als erstes Zeichen dafür sieht er den Sprengstoffanschlag auf einen Militärkonvoi in Ankara am 17. Februar. Dabei starben mindestens 28 Menschen – darunter auch eine kurdische Zivilistin. Zu der Aktion hat sich die Freiheitsfalken Kurdistans (TAK) bekannt, eine extreme Splittergruppe, von der sich auch die PKK-Führung distanziert. „Wir rufen dazu auf, zum Verhandlungstisch zurückzukehren, um das Land vor einem Bürgerkrieg zu bewahren“, sagt der HDP-Abgeordnete Kürkçü.

Der türkischen Regierung wirft er vor, die Gewalt im Land für ihre politischen Zwecke zu nutzen und immer stärkeren Druck auf die HDP auszuüben. „Solange wir im Parlament sitzen, haben sie nicht genügend Stimmen für eine Verfassungsänderung.“ Diese Änderung braucht es aber, damit Präsident Recep Tayyip Erdoğan die Vollmachten des Staatsoberhaupts ausbauen kann. Dazu Kürkçü: „Das Präsidialsystem, das Erdoğan anstrebt, gleicht nicht jenem der USA oder Frankreichs, sondern den autoritären Systemen in Zentralasien.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.03.2016)

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