Die Katze spürte als Erstes die Veränderung. Sie schützte ihre Jungen und uns vor der Strahlung.
Im Garten meiner Eltern in Salzburg gab es damals ein Katze, die sehr verwildert lebte. Sie ließ keinen Menschen an sich heran und betrat nie zuvor ein Haus. Doch im April 1986 änderte sich das. Nach dem Regen, der sich ab dem 29. April aus der Tschernobyl-Wolke entlud, brachte die Katze Mutzi plötzlich alle drei Babykätzchen, die sie wenige Tage zuvor zur Welt gebracht hatte, in unser Haus.
Sie schleppte eines nach dem anderen im typischen Halsgriff ins Wohnzimmer, legte sich mit den Katzenjungen in ein Eck und war von diesem Tag an eine Hauskatze. Sie fauchte die Jungen an, wenn sie zur Terrassentüre hinauswollten und verbot so ihren Kindern den Kontakt mit der Außenwelt.
Wir erfuhren erst zwei Tage später den Grund, warum sie ihre Jungen ins Haus gebracht hatte: Die Außenwelt war von Radioaktivität verseucht. Wir Kinder hatten selbst noch draußen gespielt, nach dem Regen, die Information der Katastrophe war noch nicht zu uns durchgedrungen. Meine sechsjährige Schwester war nach dem Regen krank, hatte Erbrechen und Durchfall: Die Ärzte im Landeskrankenhaus fanden aber keinen Infekt, niemand wusste, was es war.
Doch die Katze spürte die Veränderung: Sie trank nach dem Regen keine frische Bauernmilch mehr. Wir setzten sie in der darauffolgenden Zeit als „Geigerzähler“ ein: Jedes Fleisch, das wir verkochen wollten, wurde im rohen Zustand der Katze vorgelegt. Verweigerte Mutzi das Futter, verwarfen auch wir den Gedanken an Verzehr. Denn durch einen echten Geigerzähler, den wir uns ausliehen, um unseren Verdacht zu untersuchen, wurde belegt: Wenn die Katze das Fleisch nicht fraß, dann tickte auch der Geigerzähler laut und hektisch, da die radioaktive Strahlung erhöht war.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.04.2016)