Ein bedrängter IS geht in die Terroroffensive

Bergung von Verletzten in Bagdad: Viele Menschen dürften noch verschüttet sein.
Bergung von Verletzten in Bagdad: Viele Menschen dürften noch verschüttet sein.(c) APA/AFP/SABAH ARAR
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Mit verheerenden Anschlägen wie in der Nacht auf Sonntag in Bagdad mit Dutzenden Toten will der Islamische Staat Schrecken verbreiten. Nie zuvor war die Führungsriege der Gotteskrieger derart unter militärischem Druck wie jetzt.

Kairo. Den Rettungskräften bot sich ein Bild des Horrors. Verkohlte Leichen, verzweifelt schreiende Verwundete und eingestürzte Gebäude. Die ganze Nacht loderten haushoch die Flammen über dem Karrada-Viertel von Bagdad. Erst nach Stunden konnte die Feuerwehr der Brände Herr werden.

Zehntausende Menschen waren am Samstagabend nach dem Ramadan-Fastenbrechen in der populären Einkaufsmeile unterwegs, saßen in Cafés, Restaurants oder in einer der beliebten Saftbars, als gegen Mitternacht die Attentäter des Islamischen Staates (IS) zuschlugen. Ihre Megabombe war in einem Kühllastwagen versteckt. Mindestens 125 Iraker starben, darunter viele Kinder. Dutzende Menschen sind vermutlich noch unter den Ruinen verschüttet. Über 200 Passanten wurden verletzt. Es war das blutigste IS-Attentat auf irakischem Boden seit Jahresbeginn 2016.

Der Mega-Anschlag kam nur eine Woche nach der verheerenden militärischen Niederlage der Terrormiliz in Fallujah. Ganze vier Wochen brauchten die irakischen Spezialeinheiten, um die Kalifatskrieger aus der Stadt zu vertreiben, die seit Anfang 2014 in deren Hand war und neben Mosul als die wichtigste IS-Bastion in Mesopotamien galt.

Am Ende flohen die Jihadisten in heller Panik. Als Erste machten sich die Kommandeure und radikalen Imame aus dem Staub. Die einfachen Gotteskrieger versuchten Tage später die Flucht in einem elf Kilometer langen Fahrzeugkonvoi, der noch vor den Toren Fallujahs von US-Kampfjets und irakischen Hubschraubern entdeckt und zusammengeschossen wurde.

Hilferufe aus dem IS-Gebiet

Noch nie seit der Gründung des Islamischen Kalifats vor zwei Jahren stand die Terrormiliz militärisch so unter Druck wie in den vergangenen Wochen. Nach dem Fall von Fallujah kontrollieren die Anhänger von Abu Bakr al-Baghdadi im Irak nur noch rund 15 Prozent des Staatsgebietes. Und Bagdads Armee rüstet für die letzte Phase, die Rückeroberung der Millionen-Einwohner-Metropole Mosul. In Syrien droht der IS die Nachschubverbindung über die Türkei zu verlieren. Eine arabisch-kurdische Streitmacht umzingelte die strategisch wichtige Stadt Manbij, die bislang zentraler Anlaufpunkt für neue IS-Rekruten war. Westliche Geheimdienste schätzen, dass mittlerweile nur noch 200 neue Jihadisten pro Monat ins Kalifatsgebiet einsickern, im Jahr 2015 dagegen waren es durchschnittlich 2000. Umgekehrt steigt die Zahl der herausgeschmuggelten Notrufe. Über 150 rückkehrwillige Jihadisten baten in den vergangenen Wochen Diplomaten westlicher Länder um Hilfe, um das IS-Gebiet verlassen zu können.

Die Führung der Terrormiliz weiß, dass die Kampfmoral in den eigenen Reihen gelitten hat. Und so versuchte IS-Sprecher Abu Mohammed al-Adnani, die Gotteskrieger in einer 30 Minuten langen Audiobotschaft zu beruhigen und gleichzeitig auf eine neue Terrorexistenz ohne eigenes Kalifat einzuschwören. Selbst wenn der IS die Kontrolle über seine Hochburgen Mosul im Irak, Sirte in Libyen oder Raqqa in Syrien verlieren sollte, wäre dies keine Niederlage, deklamierte er. „Eine Niederlage ist es nur, wenn wir die Überzeugung und den Willen zum Kampf verlieren“, sagte al-Adnani und beschwor die IS-Anhänger, den Ramadan für neue Anschläge zu nutzen – vor allem in Europa und den USA.

Terrorwelle im Fastenmonat Ramadan

Zu spüren jedoch bekamen die angekündigte Terrorserie im islamischen Fastenmonat neben Bangladesch in erster Linie die nahöstlichen Nachbarstaaten Syriens. In Jordaniens Grenzgebiet sprengte sich am 21. Juni ein Selbstmordattentäter in die Luft und riss sieben Soldaten mit in den Tod. Als Reaktion machte Amman die Übergänge nach Syrien dicht und erklärte die Grenzregion zum militärischen Sperrgebiet. Seitdem spielen sich vor Ort unbeschreibliche Szenen ab. 70.000 syrische Flüchtlinge, die Hälfte von ihnen Kinder, kampieren auf freiem Feld in der brütenden Sonne. Hilfsorganisationen dürfen die Menschen nicht mehr mit Wasser und Essen versorgen, eine Notklinik musste auf jordanischen Druck schließen.

Im Libanon griffen sechs Tage später, am 27. Juni, acht Terroristen das von Christen bewohnte Grenzstädtchen al-Qaa an. Fünf Bewohner verloren ihr Leben, 15 wurden verwundet. Tagelang trauten sich die Menschen nicht mehr aus ihren Häusern. Gleichzeitig konnte die libanesische Polizei in Beirut fünf Verdächtige verhaften, die offenbar Anschläge auf das Kasino und die Hamra-Flaniermeile im Osten der Hauptstadt geplant hatten. Einen Tag später, am Abend des 28. Juni, starben in der Türkei bei einer Kommandoaktion von drei IS-Selbstmordattentätern auf dem Flughafen von Istanbul 45 Menschen, 200 wurden verletzt, 20 von ihnen liegen noch auf der Intensivstation.

„In jeder Stadt der Welt“ möglich

„Die Bomben hätten in jeder Stadt der Welt explodieren können“, erklärte Präsident Recep Tayyip Erdoğan und rief alle Staaten und Völker auf, gemeinsam gegen den Terror zu kämpfen. Anderenfalls könnten bald „Dinge geschehen, an die wir heute noch nicht einmal zu denken wagen“.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.07.2016)

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