Obwohl das russische Oberkommando eine dreistündige Waffenruhe ausgerufen hatte, gingen die Luftangriffe auf die syrische Stadt weiter. Helfer berichten von einem erneuten Giftgasangriff.
Kairo/Damaskus. Die Lage der Menschen in der umkämpften nordsyrischen Stadt Aleppo spitzt sich weiter zu. „Die Zeit drängt“, warnte nun der UN-Sondergesandte für Syrien, Staffan de Mistura, in Genf. Die Versorgung der leidgeprüften Bevölkerung sei völlig unzureichend. „Zivilisten auf beiden Seiten sind in Gefahr“, erklärte de Mistura. In dem von Rebellen kontrollierten Ostteil ging das Bombardement aus der Luft auch am Donnerstag rund um die Uhr weiter, obwohl das russische Oberkommando eine dreistündige Waffenruhe ausgerufen hatte. Nach dem Willen Moskaus soll diese künftig jeden Tag von 10 bis 13 Uhr Ortszeit gelten, damit Transporte mit Lebensmitteln und Medikamenten in die Stadt gelangen können.
UN-Nothilfekoordinator Stephen O'Brien wies dies aber als unzureichend zurück: Eine dreistündige Waffenruhe reiche nicht aus, um der Bevölkerung zu helfen. Feuerpausen von mindestens 48 Stunden seien nötig, um Hilfsgüter auf Lastwagen zu laden, diese in die Stadt zu transportieren und auf dem Rückweg Menschen aus der Gefahrenzone zu bringen.
Abwurf von Chlorgas?
Am Donnerstag wurden Vorwürfe laut, dass allem Anschein nach das Regime erneut Giftgas eingesetzt habe. Bei einem Angriff auf ein von Aufständischen gehaltenes Viertel in Aleppo sei offenbar Chlorgas freigesetzt worden. Mindestens vier Menschen seien getötet und weitere 55 verletzt worden. Das berichtete der Chef des al-Quds-Spitals, Hamsa Chatib, der Nachrichtenagentur Reuters.
Die Behälter mit dem Kampfstoff sollen zusammen mit Fassbomben abgeworfen worden sein. Chatib sagte, er habe Kleidungsstücke und Bombenteile als Beweismittel aufgehoben. Auch der Syrische Zivilschutz, ein Rettungsdienst aus Freiwilligen, berichtete von Toten durch einen Gasangriff.
Es gebe „viele Hinweise“, dass dieser Giftgasangriff stattgefunden habe, sagte dazu UN-Sondergesandter de Mistura. Sollten sich die Vorwürfe bestätigen, handle es sich „um ein Kriegsverbrechen“.
Auch im Westteil Aleppos, der unter der Kontrolle des Regimes steht, macht sich unter den 1,2 Millionen Einwohnern Angst breit. Denn die Kämpfe verlagern sich jetzt auch in ihre bisher verschont gebliebenen Wohnviertel, und die Lebensmittel werden knapper.
Unterdessen wandten sich 15 der 35 noch im Ostteil Aleppos verbliebenen Ärzte in einem bewegenden Appell an US-Präsident Barack Obama. Sie flehten ihn an, zum Schutz der Zivilbevölkerung im umzingelten Ost-Aleppo einzugreifen.
„Wir brauchen keine Tränen“
Die Lage für die verbliebenen 250.000 Bewohner in den von Rebellen kontrollierten Vierteln könne aussichtslos werden, wenn es den Regimetruppen gelänge, den Belagerungsring wieder zu schließen. „Wird kein permanenter Hilfskorridor geöffnet, ist es nur eine Frage der Zeit, bis sich Hunger ausbreitet und die Vorräte der Krankenhäuser zur Neige gehen“, schrieben die Mediziner und warfen den USA Untätigkeit vor.
„Wir brauchen keine Tränen, kein Mitleid und keine Gebete“, heißt es in dem Brief an Obama. „Alles, was wir brauchen, sind Ihre Taten. Beweisen Sie, dass Sie ein Freund der Syrer sind.“
Rebellen wollen Stadt erobern
Sowohl Syriens Regierung als auch die Rebellen rüsten derweil zur entscheidenden Schlacht um Aleppo, die zu einer Vorentscheidung des fünfeinhalb Jahre dauernden Bürgerkriegs führen könnte.
Am vergangenen Wochenende kämpfte die islamistisch geführte Rebellenallianz von Südwesten her einen neuen Korridor frei. Der allerdings liegt weiter unter Beschuss, sodass bisher nur kleinere Hilfslieferungen möglich sind und nur wenige Schwerverletzte herausgebracht werden konnten. Die Führung der islamistischen Rebellen, die über die Türkei seit Monaten mit schweren Waffen versorgt werden, kündigte an, man werde in absehbarer Zeit ganz Aleppo erobern und die Regime-Machthaber aus der Stadt vertreiben.
Unterdessen griffen russische Kampfflugzeuge am Donnerstag auch Raqqa, die Hauptstadt der Extremistenorganisation des sogenannten Islamischen Staates (IS), an. Durch die Bomben wurden nach Angaben der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte mindestens 24 Zivilisten getötet und 70 verwundet.
AUF EINEN BLICK
Keine Waffenruhe in Aleppo. Zwar hat Russland angekündigt, dass jeden Tag von 10 bis 13 Uhr in Aleppo eine Waffenruhe gelten solle. Doch die Angriffe auf den Ostteil der syrischen Stadt gingen auch am Donnerstag fast pausenlos weiter. UN-Nothilfekoordinator Stephen O'Brien stellte klar, dass eine nur dreistündige Waffenruhe nicht ausreiche. Feuerpausen von mindestens 48 Stunden seien nötig, um Hilfsgüter auf Lkw zu laden, diese in die Stadt zu transportieren und Menschen aus der Gefahrenzone zu bringen.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 12.08.2016)