Brexit-Vorrunde in Calais

Das illegale Flüchtlingslager bei Calais wächst ständig. Räumungen hatten bisher nur vorübergehende Wirkung.
Das illegale Flüchtlingslager bei Calais wächst ständig. Räumungen hatten bisher nur vorübergehende Wirkung. (c) APA/AFP/PHILIPPE HUGUEN
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Paris drängt London zu Brexit-Verhandlungen. In Calais wünscht die Bevölkerung eine sofortige Aufkündigung der britisch-französischen Kooperation in der Flüchtlingspolitik.

Paris. „Nicht nach 2019.“ Das ist die Frist, die der französische Staatspräsident, François Hollande, der britischen Regierung für das Ende der Verhandlungen über die zukünftigen bilateralen Beziehungen zur EU gegeben hat. Im Unterschied zur geduldigeren Regierung in Berlin geht man in Paris davon aus, dass weder die Briten noch die Rest-Europäer etwas zu gewinnen hätten, wenn der Trennungsprozess unnötig in die Länge gezogen wird. Dass dabei so etwas wie ein Wunsch, die britischen Separatisten zu bestrafen, vorliege, streitet die französische Staatsführung ganz entschieden ab. Hingegen möchte Frankreich aber auch nicht, dass es am Ende aussieht, als hätte das Brexit-Votum keinerlei Konsequenzen. Fast konsterniert nimmt man in Paris zur Kenntnis, dass der britische Austrittsbeschluss bisher nicht einen katastrophalen wirtschaftlichen Rückschlag und namentlich eine Massenabwanderung von Unternehmen und Finanzinstituten zur Folge hatte.

Auf besondere Nachsicht und Milde kann Großbritannien in den Brexit-Verhandlungen bei seinem historischen Erzrivalen nicht rechnen. Die anstehenden Verhandlungen über das Flüchtlingsproblem am Ärmelkanal werden einen Vorgeschmack davon geben. Frankreich fühlt sich durch das 2003 vereinbarte Abkommen von Le Touquet übervorteilt. Nachdem im Jahr 2000 auf dringenden britischen Wunsch das Rotkreuz-Durchgangslager für Migranten und Flüchtlinge in Sangatte bei Calais geschlossen worden ist, haben sich der damalige Innenminister, Nicolas Sarkozy, und sein Amtskollege, David Blunkett, darauf geeinigt, dass Frankreich die Grenzkontrolle auf seiner Seite des Kanals übernimmt und die entsprechenden Vorkehrungen trifft, um Flüchtlinge und Migranten an einer illegalen Einreise in das Vereinigte Königreich zu hindern.

Ständig wachsendes Flüchtlingslager

Die Folge davon sind wilde Camps, in denen sich immer mehr Menschen aus Afrika und dem Nahen Osten sammeln, die vergeblich versuchen, nach Großbritannien zu gelangen. Ihre Zahl wächst ständig. Weder schärfere Kontrollen, höhere Zäune noch die proportional dazu wachsenden Gefahren für die blinden Passagiere halten sie ab. Die polizeiliche Räumung der Lager bei Calais ist eine Sisyphusarbeit. Die Vertriebenen kommen so schnell wie möglich zurück, um aufs Neue die Überfahrt zu riskieren. Allein im Monat Juli haben vier von ihnen dies mit dem Leben bezahlt. Heute leben im Dschungel, wie das Camp östlich von Calais von allen genannt wird, zwischen 7000 und 10.000 Menschen.

Parallel dazu wächst auch die Empörung in der Bevölkerung. Am Montag haben lokale Kleinunternehmer, Geschäftsinhaber, Landwirte mit Lastern und Traktoren den ganzen Tag über die Autobahn blockiert. Sie wollen nicht länger unter den indirekten Folgen dieses seit mehr als 15 Jahren ungelösten Flüchtlingsproblems leiden, das sich Großbritannien und Frankreich wie eine heiße Kartoffel zuschieben.

Aus französischer Sicht eröffnet nun das Brexit-Votum eine Perspektive für Calais: Der konservative Vorsitzende der französischen Region Nord-Pas-de-Calais, Xavier Bertrand, hat angeregt, die Briten sollten ihre Problem nun selbst lösen. Er verwies auf die angekündigten verschärften Einreisebestimmungen, die London nach dem Referendum umsetzen möchte. Da sie dies nun selbst in die Hand nehmen wollen, könne man auch gleich das Abkommen von Le Touquet beenden, so Bertrand. Das würde bedeuten, dass Großbritannien nicht länger auf Frankreichs Hilfe zählen kann, um illegale Immigranten schon auf dem Kontinent zu stoppen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.09.2016)

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