Haiti: Wenn das Essen nicht reicht

(c) Sommerbauer
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Seine Strände sind malerisch, sein Name klingt verheißungsvoll: Doch der ferne Westen Haitis ist ein vergessener Landstrich, in dem Kinder die ersten Opfer der bitteren Armut sind.

Über der Bucht von Môle Saint-Nicolas strahlt die karibische Sonne ohne Unterlass. Ein Seemann watet durch das glasklare Meerwasser zu seinem Boot, zwei Arbeiter beladen ein Schiff mit Holzkohlesäcken, ein Mädchen im blauen Rock spaziert mit einem Blechkessel auf dem Kopf vorüber. Fast könnte es eine beschauliche Szene sein. Fast.

Doch die Szene spielt auf Haiti und hier ist selten etwas beschaulich. Das Land, das sich eine Insel teilt mit dem Paradies der Kluburlauber, der Dominikanischen Republik, gilt als der ärmste Staat der westlichen Welt, nur eineinhalb Flugstunden von Miami entfernt. Haiti, beschaulich? Das ist womöglich Jahrhunderte her. Vielleicht muss man bis zum Jahr 1492 zurückgehen, als Christoph Kolumbus hier an Land ging. Es war seine erste Expedition, im äußersten Nordwesten Haitis gründete er die erste Siedlung in der Neuen Welt: La Navidad, heute Môle Saint-Nicolas.

Einst eine reiche Kolonie. Damals wucherten tropische Pflanzen auf der Insel. Heute ist ihr Boden so trocken, dass neben Gestrüpp nur noch mannshohe Kakteen wachsen. Die Franzosen, später Herrscher der Kolonie, begannen mit dem Kahlschlag, der heute weitergeführt wird: Denn das Herdfeuer der Armen brennt länger mit Holzkohle. Haiti war die reichste französische Kolonie. Eine halbe Million schwarzer Sklaven aus Westafrika musste auf Zuckerrohr- und Kaffeeplantagen schuften. Heute fällt es in Haiti leichter, das aufzuzählen, was es nicht oder nur mangelhaft gibt: Trinkwasser, Strom, Schulbildung, Gesundheitsversorgung, Auslandsinvestitionen. 80Prozent der Haitianer müssen von weniger als zwei Dollar pro Tag leben.

Vor allem im Nordwesten des Landes ist die Lage prekär. In dieser Region, die die Menschen in der Hauptstadt Port-au-Prince den „fernen Westen“ nennen (für 200 Kilometer Fahrt benötigt man geschlagene acht Stunden), gibt es die höchste Rate unterernährter Kinder im Land. 6,2Prozent sind von mittlerer, 2,2Prozent von schwerer Unterernährung betroffen, und bis zu 30Prozent sind leicht unterernährt.

Da ein öffentliches Gesundheitssystem so gut wie nicht existiert, droht auch den leicht geschwächten Kindern das Abgleiten in die Risikogruppe. „Die Kinder bekommen nur Hilfe, wenn sie sehr krank sind“, klagt Faith Leach. Die 47-jährige Amerikanerin ist technische Leiterin des Spitals in Bombardopolis, 15Kilometer von Môle Saint-Nicolas entfernt. „Dabei wäre gerade die Vorbeugung wichtig.“ Diese soll künftig intensiviert werden – mit österreichischer Hilfe. Das Hilfswerk Austria International unterstützt hier und an anderen Orten der Region ein Projekt, dass dabei helfen soll, Unterernährung frühzeitig zu erkennen und zu bekämpfen.

Jeden Mittwoch werden im Spital Kinder gemessen und gewogen. Auch den kleinen Keed Dawens, 21 Monate alt, setzten Ärzte vor ein paar Monaten in die Kinderwaage. Sein Untergewicht war so lebensbedrohend, dass man ihn gleich im Spital behielt. Gemeinsam mit seiner Mutter, der 23-jährigen Adeline Jean-Baptiste, bewohnt er nun ein kleines Lehmhäuschen auf dem Klinikgelände. Hier wird Keed Dawens mit Spezialnahrung versorgt, seine Mutter isst Reis, Gemüse, Erdnussbutter, manchmal Fleisch, damit auch sie zu Kräften kommt. Denn ihr Bauch ist rund, sie ist wieder schwanger: Die Gefahr, dass das neue Baby unterernährt zur Welt komme, sei groß, sagt Leach, die seit 13 Jahren auf Haiti tätig ist. Wird man bei solchen Geschichten nicht entmutigt? „Man sieht die Leben, die verändert werden“, sagt die Missionarin. Außerdem: „Schließlich dienen wir Gott.“

Dieser Gott – er wird in diesem von Wirbelstürmen und Putschen heimgesuchten Land allerorts beschworen. In den vielen Kirchen aller möglichen Gemeinschaften, die den Armen in ihrem schweren Leben zumindest spirituelle Hilfe versprechen. Auf den bunt bemalten „Tap-Taps“, den Sammeltaxis mit ihren gottesfürchtigen Aufschriften: „Jesus, ich liebe dich“ ist da kunstvoll hingemalt, oder „Ohne Gott kann man gar nichts machen“.

Ein früherer Priester war auch der große Hoffnungsträger des letzten Jahrzehnts. Doch Ex-Präsident Jean-Bertrand Aristide enttäuschte sein Volk und wurde 2004 von Rebellen verjagt. Heute sitzt sein ehemaliger Mitstreiter, der studierte Agronom René Préval, im Präsidentensessel. Die UN-Mission Minustah hat seit 2006 für mehr Stabilität gesorgt, doch das Land wartet noch immer auf Investitionen und Hilfsgelder. 2008 haben die Hurrikans Gustav, Hanna und Ike das Land zerstört. Sie hatten ein leichtes Spiel mit den gebrechlichen Zäunen aus krummen Ästen und den dünnwandigen Behausungen.

Auf dem Markt in Bombardopolis wird die magere Ausbeute der hiesigen Felder zum Verkauf geboten: Bananen, ein paar Karotten, Kartoffeln. Doch die Grundnahrungsmittel – Reis, Bohnen, Zucker – kommen aus den USA. Henri Max ist Marktfrau und verkauft Reis, amerikanischen der Marke Meg, „extra fancy“. Haitianischen – „das Beste, was es an Qualität gibt“ – hat sie nicht im Sortiment, er sei „zu teuer“. Über zwei Drittel der Bevölkerung ist in der Landwirtschaft tätig, doch der Sektor ist wenig rentabel. „Wir importieren alles, was wir essen“, sagt Pierre Despagne, Direktor der Nichtregierungsorganisation CDS,die sich im Gesundheitsbereich engagiert.

In den Apriltagen 2008 musste die Regierung erkennen, dass Billigimporte nur bedingt eine Absicherung gegen Unterversorgung sind. Innerhalb eines halben Jahres verdoppelten sich die Preise für Reis, es kam zu Hungerrevolten. Die Lage hat sich seitdem wieder beruhigt, aber, wie Faith Leach sagt: „Die Preise sind noch immer hoch.“

Überfahrt in die Neue Welt. Wenn die Sonne untergegangen ist, ist es in Môle Saint-Nicolas stockfinster. Nur die ohrenbetäubenden Klänge der Kompa-Musik sind zu hören: Es sind Jugendliche, die am Strand eine Party feiern, der Generator läuft, der Beat pulsiert. Ein junger Mann mit einem goldenen Dollarzeichen um den Hals tanzt im Sand, Bierflaschen und frittierte Kochbananen machen die Runde. Während sich die einen wie in Trance bewegen, bereiten sich andere auf die Überfahrt vor: Immer wieder starten in der tiefschwarzen Nacht aus der Region Boote mit jungen Männern in Richtung USA.

Eineinhalb Flugstunden nach Miami sind als Überfahrt auf dem Wasser eine riskante Reise. Doch viele, die in Haitis Nordwesten auf das glitzernde Meer blicken, kann das nicht abschrecken. Sie wollen einem Land entkommen, das ihnen zu wenig gibt – und endlich selbst in der Neuen Welt ankommen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.09.2009)

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