Wien muss nicht London werden, etwas mehr Zürich reicht schon

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Ob Österreich vom Brexit profitieren kann, ist offen. Klar ist aber, dass es bei der Standortattraktivität etwa im Vergleich zur Schweiz Nachholbedarf gibt.

Es ist eine unerwartete positive Überraschung: Die Regierung kann auch an einem Strang ziehen. Angesichts der bevorstehenden Absiedelung der europäischen Banken- und Medikamentenaufsicht aus London bemüht sich Österreich darum, diese nach Wien zu locken. Und dabei arbeiten das schwarze Außen-, Finanz- und Wirtschaftsministerium auf der einen und das rote Gesundheitsministerium sowie Bundeskanzleramt und Stadt Wien auf der anderen Seite wirklich Hand in Hand. Angesichts einer Großen Koalition, bei der die Diskussion über vorgezogene Neuwahlen ständiger Begleiter ist, ein bemerkenswertes Vorgehen.

Ob diese gemeinsame Anstrengung der heimischen Politik schlussendlich reichen wird, ist offen. Denn natürlich haben auch schon andere Städte längst ihre Rute in Richtung London ausgeworfen, um die beiden EU-Behörden, aber noch viel mehr die vielen internationalen Geschäftsbanken in ihr Land zu ziehen. Denn auch wenn es vielen Briten noch nicht bewusst ist: Ihr Brexit-Votum vom Juni wird zumindest im Finanzsektor zu einem Exodus führen. Darüber ist sich die Branche einig. Schon bisher war es für die oft außereuropäischen Institute nicht optimal, dass ihre Europa-Zentralen nicht innerhalb der Eurozone gelegen sind. Eine Europazentrale außerhalb der EU gilt vielfach jedoch als ausgeschlossen.

Natürlich werden nicht alle 360.000 in London stationierten Bankmitarbeiter das bislang größte Finanzzentrum der Welt verlassen. Rund die Hälfte von ihnen könnte jedoch schon in einigen Jahren irgendwo anders – innerhalb von EU und Eurozone – ihren Arbeitsplatz haben, so die Schätzungen. Die erzielte Wertschöpfung und, noch viel wichtiger, die Steuereinnahmen würden dabei mitwandern.

Wien ist nicht die erste Adresse, die einem als mögliche Alternative zu London in den Sinn kommt. So viel Realismus muss sein. Allerdings ist es auch nicht ausgeschlossen, dass sich der eine oder andere hierzulande ansiedeln könnte. Kam im Sommer doch sogar die „New York Times“ in einem Ranking der potenziellen Brexit-Gewinner auf ein überraschend positives Ergebnis für die heimische Bundeshauptstadt. Nach Amsterdam und Frankfurt wurde Wien an dritter Stelle gereiht. Und wenn es darum geht, EU-Behörden anzulocken, hat Wien noch einen weiteren Vorteil, konstatierte auch die Nachrichtenagentur Bloomberg: Wien liegt weder in Deutschland noch in Frankreich. Die Suche nach einem Kompromiss machte schließlich auch erst Brüssel zu dem, was es heute ist.

Eine hohe Lebensqualität, wenig Kriminalität, (im Vergleich zu Südeuropa) gute Englischkenntnisse der Bevölkerung, ein relativ liberales Arbeitsrecht ohne allgemeinen Kündigungsschutz, eine geografisch günstige Lage mit guter Verkehrsinfrastruktur. Viele Punkte sprechen für Österreich und Wien.


Allerdings gibt es auch eine ganze Reihe an Negativkriterien: allen voran das hohe Steuer- und Abgabenniveau. Erst kürzlich zeigten Zahlen der EU, dass Österreich mit einer durchschnittlichen Belastung von 57,4 Prozent auf Löhne und Einkommen den zweithöchsten Wert in der ganzen Union aufweist. Kein Wunder also, dass das Land etwa im Standortranking des World Economic Forum beim Punkt Steuerrate nur den 114.Rang unter 138Ländern erreicht. Zum Vergleich: Die ebenfalls mit Sozialsystem und funktionierender Infrastruktur gesegnete Schweiz liegt bei demselben Kriterium an 31. Stelle.

Und was überbordende Steuern anrichten, konnte in den vergangenen Monaten ja live bei der Bank Austria beobachtet werden. Hier war die bis Sommer bestehende – in Relation zu Deutschland zehnmal so hohe – Bankensteuer ein wichtiger Mitgrund, dass die italienische Mutter UniCredit das Osteuropa-Geschäft nach Mailand geholt hat.

Die aktuellen Bemühungen der Regierung sind lobenswert. Sie sollte diese Verve allerdings nicht nur bei den britischen Banken an den Tag legen, sondern auch dabei, die seit Langem bekannten Standortnachteile endlich anzugehen. Denn Entscheidungen für oder gegen ein Land werden in der Wirtschaft auch abseits des Runs auf die Brexit-Absiedler jeden Tag gefällt.

E-Mails an:jakob.zirm@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.11.2016)

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