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Leipziger Buerger gedenken mit einer Lichtinstallation
Leipziger Buerger gedenken mit einer Lichtinstallation (c) AP (ECKEHARD SCHULZ)
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Der wichtigste Tag für die deutsche Revolution war der 9. Oktober 1989. Seitdem wird Leipzig als "Heldenstadt" verehrt.

TIPP

Am 9. Oktober 1989 wurde Martin
Janowski um sechs Uhr von einem Fernsehteam aus Budapest geweckt. Der junge oppositionelle Untergrundautor und Liedermacher hatte gut geschlafen, war aber wegen der frühen Stunde noch recht müde. „Im Oktober 1989 hatten wir nicht den Plan, eine Revolution zu machen – und doch machten wir eine, sogar erfolgreich und friedlich – das hatten wir von uns selbst nicht erwartet!“, konstatiert er heute.

Zwei Tage vorher war die Polizei massiv
gegen die stummen Proteste zum 40. DDR-
Geburtstag vorgegangen, Deutschland blickte an diesem Montag also mit banger Spannung auf Leipzig. Würde es trotz massiver Drohungen des SED-Regimes nach dem Montagsfriedensgebet um 17 Uhr in der Nikolaikirche wieder zu spontanen Menschenansammlungen kommen?

Jankowski in der Morgendämmerung kochte erst einmal Kaffee für sich und die Ungarn. „Ungarn war immerhin unser sozialistischer Bruderstaat. Ich hatte mich nur zögernd auf die Filmaufnahmen eingelassen, aber letztlich war ich dadurch als heftiger Verhaftungskandidat, der ich ja seit 1987 war, für diesen Tag besser geschützt. Ich hatte eine einjährige Tochter, und die Mutter war gerade nicht in der Stadt, deshalb wollte ich auf keinen Fall geschnappt werden!“

Die historische Dimension wurde ihm schlagartig bewusst, als der ungarische TV-Mann ihn fragte, wie Leipzig nach diesem Friedensgebet aussehen würde. „Falls wieder demonstriert wird, antwortete ich, haben wir heute einen ernsthaften Bürgerkrieg – oder den Anfang des Endes der DDR. Ich erinnere mich, wie ich eine Gänsehaut bekam, während ich das sagte . . .“

Am frühen Nachmittag begab sich Jankowski als Mitgestalter des Friedensgebets zu einer Besprechung in die Superintendentur der Nikolaikirche. Es wurde kolportiert, dass die Stadt von 20.000 bewaffneten Soldaten umstellt sei. „Die SED ließ uns glauben, es gäbe einen Schießbefehl. Sie hatten sogar die Krankenhäuser angewiesen, Stationen für Schussverletzte freizuräumen, damit wir ihren Drohungen Glauben schenken sollten. Aber wir dachten: Sollen sie es nur wagen, auf ihr Volk zu schießen. Wir riskierten viel. Aber wir behielten recht.“ Gegen 17 Uhr füllten trotz Angstmache und verkehrstechnischer Abriegelung etwa 70.000 Leute die Leipziger Innenstadt.


„Zunächst hielten 400 SED-Genossen per Parteiauftrag das Kirchenschiff in der Nikolaikirche besetzt. Eine unkluge Taktik: Die Leute standen draußen auf der Straße – so verhindert man keine Demonstrationen.“ Danach wollte er rasch nach Hause gehen, hatte er doch die Tochter beim Babysitter zurückgelassen. „Wegen der Menschenmassen geriet ich unversehens doch in die gefährliche Demonstration, die ich eigentlich meiden wollte. Das ungarische Fernsehteam sah ich zuletzt auf einem Trafohäuschen, wie sie das Unfassbare von oben filmten. Wir winkten uns zu und machten Victory-Zeichen. Danach habe ich sie nie wieder gesehen . . . nicht nur ich gäbe heute einiges für die Bilder von damals!“



Martin Amanshauser, "Logbuch Welt", 52 Reiseziele, www.amanshauser.at, Bestell-Info: Online oder Fax: 01/514 14-277.

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