100 Jahre Liebesbriefe

In den Briefen ist zu lesen, wie die Liebe beschrieben – und auch verhandelt wird. Unter den Briefmarken fanden sich versteckte Botschaften.
In den Briefen ist zu lesen, wie die Liebe beschrieben – und auch verhandelt wird. Unter den Briefmarken fanden sich versteckte Botschaften.Li Gerhalter/Sammlung Frauennachlässe
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Tausende Paarbriefe aus den Jahren 1870 bis 1980 haben Historikerinnen ausgewertet: Darin finden sich neben Liebesgefühlen auch Konflikte.

Ein Liebesbrief ist nicht immer etwa Intimes. Manche wurden noch vor hundert Jahren extra verfasst, um sie der Familie vorzulesen. Und um den Segen der Eltern zu bekommen, indem man ihnen zeigt: Dieser Mann meint es ehrlich mit mir. Dies ist nur eines der Ergebnisse aus den umfassenden Forschungen der Historikerinnen Christa Hämmerle, Uni Wien, und Ingrid Bauer, Uni Salzburg. Gemeinsam mit ihrem Team untersuchten sie Korrespondenzen von mehr als 50 Paaren zwischen den Jahren 1870 und 1980. Über den Zeitraum von über 100 Jahren konnten sie auf diese Weise nachvollziehen, wie sich der kulturelle Wandel von Liebe und Ehe in privaten Briefen zeigt oder wie sich beispielsweise Liebesbriefe von Bürgertum und Arbeiterschaft unterscheiden.

„Aus der Arbeiterschaft hatten wir am wenigsten Quellen: Erstens weil weniger geschrieben wurde, aber auch, weil die Nachkommen weniger aufbewahrten“, sagt Ingrid Bauer. Bildungsferne Schichten griffen im 19. Jahrhundert eher zu „Kitschkarten“. Das sind kolorierte Korrespondenzkarten, oft mit Sehnsuchtsmotiven, auf denen man statt Worten Bilder sprechen ließ. Sogar ein Ministerialbeamter verschickte solchen Kitsch. „Es gab eigene Steckalben, um diese Karten zu sammeln“, erzählt Bauer.


Beeinflusst von Gesellschaft. In all den Briefen, die mittels Textanalyse ausgewertet wurden, fanden die Forscherinnen, wie stark das ganz Private und Intime, die Korrespondenz über Beziehung und Liebe durch Kultur und Gesellschaft beeinflusst sind: So unterschreibt etwa ein Mann den Liebesbrief während der NS-Zeit mit „Heil Hitler“ und stellt der Frau die Frage, ob sie ihm ein Kind für Großdeutschland schenken wird.

Die Zeiten der beiden Weltkriege brachten für dieses Projekt das meiste Material: „Eine Explosion des privaten Schreibens“ nennen die Forscherinnen den Umstand, dass Millionen von Paaren getrennt waren und nur mehr per Feldpost und Briefen kommunizieren konnten. Auch soziale Schichten, die sonst weniger schriftlich verkehrten, griffen nun zu Papier und Stift.

„Vor allem während des Ersten Weltkriegs wurden auch viele Konflikte in Korrespondenzen zum Ausdruck gebracht, sowie Zweifel, Angst und Ohnmacht“, berichtet Hämmerle. Auch Eifersucht war oft Thema. Die Frauen schickten ab 1916 verstärkt Klagebriefe an die Männer, in denen sie das schiere Verhungern an der Heimatfront schildern. „Im Zweiten Weltkrieg gab es in den Briefen kaum kritische Tendenzen, wohl auch, weil nun die Identifikation mit dem Ideal des soldatischen Mannes weit stärker verbreitet war“, sagt Christa Hämmerle.

Auch aus Friedenszeiten suchten die Historikerinnen nach Material abseits des Bildungsbürgertums, in dem am häufigsten geschrieben wurde. Sie fanden es über Österreich verstreut, von der Sammlung Frauennachlässe am Institut für Geschichte in Wien bis zum Stadtarchiv Dornbirn. Hinzu kamen private Leihgaben, die eintrafen, als das Projekt bekannter wurde: Briefe vom Dachboden der Großeltern und ähnliche Formen von Korrespondenz wurden den Forscherinnen zugetragen.

Dienstmagd oder Beamter. „Auch meine Mutter aus Vorarlberg hat ihre Briefe an den Papa hergegeben“, verrät Hämmerle. Die Auswertung erfolgte für alle Briefe freilich anonymisiert. So finden sich in dem Buch „Liebe schreiben“, das im Februar 2017 bei V&R Academics erscheinen wird, auch Analysen der Paarkorrespondenzen eines Dienstmädchens aus Salzburg, eines Bauernsohns, eines Friseurs, einer Lehrerin, von Handwerkern und Angestellten bis zu einem Ministerialbeamten.


Verlobungsbriefe. „Im bürgerlichen Zeitalter war der Brief das Medium für die Beziehungsanbahnung und für das Entwerfen einer gemeinsamen Zukunft“, sagt Bauer. Die sogenannte Verlobungskorrespondenz endet meist mit der Hochzeit – wohl auch, weil man danach zusammenwohnen durfte.

Und obwohl der soziale Status der oder des Auserwählten wichtig war – und meist auf gleichem Niveau – und obwohl ökonomische Interessen mitspielten, heirateten die Paare all dieser Briefe aus Liebe. Solange man überhaupt noch heiratete, was ab den späten 1960ern nicht mehr vordergründig wichtig war.

„In den Briefen kann man lesen, wie das Gefühl Liebe beschrieben und auch verhandelt wurde: Ab dem Beginn der Frauenbewegung um 1870 bis zur Zeit der sexuellen Revolution 100 Jahre später“, sagt Hämmerle. Mit der frühen Frauenbewegung erblühte die Kritik am bürgerlichen Ehemodell und seiner Geschlechterhierarchie. Diese widersprach dem frühromantischen Liebeskonzept, das sich im 18. Jahrhundert bildete und eher gleichberechtigt war.

Der Mann ist das Oberhaupt der Familie, so stand es bis 1975 im Bürgerlichen Gesetzbuch. Die Frau waltet im Haus, erzieht die Kinder und verrichtet „Liebesarbeit“ für den Mann. „Die Briefe zeigen, wann das hierarchische Konzept aufbricht und in welchem Ausmaß es aber auch funktionierte“, erklärt Bauer.

Erst Ende der 1960er verliert das bürgerliche Ehemodell seine Monopolstellung, und neue Liebes- und Geschlechterentwürfe tauchen auf. „Das Verhandeln der Rollen von Frau und Mann gab es aber auch zu anderen Zeiten, etwa um 1900 oder nach dem Ersten Weltkrieg, als die sportliche, berufstätige Frau mit Bubikopf und Hosen im urbanen Raum modern war“, sagt Hämmerle.

In den Briefen fand sich zu allen Zeiten auch Sexuelles, manchmal klar und deutlich. Doch meistens sprachlich verschlüsselt.

Sexuelle Anspielungen.
So schrieb etwa im Jahr 1877 ein Mann seiner Frau an einem Jahrestag in Erinnerung an den „Abend, als unsere Herzen, die sich schon lange entgegenschlugen, endlich laut wurden und zu unserer Vereinigung führten“. Einem Tipp von Philatelisten folgend schauten die Forscherinnen auch unter den Briefmarken nach: „Dort finden sich versteckte Botschaften wie ,Ich will dich endlich küssen‘“, verrät Bauer.

Mehr als Liebe

In Paarkorrespondenzen wird auch Alltägliches verhandelt und neben der Leidenschaft über Freundschaft, Essen oder Langeweile geschrieben.
Ab 1970, als das Telefon die schriftliche Korrespondenz ersetzte, nahmen Liebesbriefe ab.
Im digitalen Zeitalter wird wieder mehr verschriftlicht. Daher findet sich auch eine SMS-Korrespondenz in der Studie, die im Februar als Buch erscheint.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.12.2016)

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