Kremser Problembezirk? Das ganz normale Vorstadtleben

Krems-Lerchenfeld
Krems-Lerchenfeld(c) Michaela Bruckberger
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Sozialer Brennpunkt, Migrantenviertel oder doch nur eine ganz normale Wohngegend? Ein Lokalaugenschein im Kremser Stadtteil Lerchenfeld.

Nein, einen guten Ruf hat der Kremser Stadtteil Lerchenfeld nicht. Und das nicht erst, seit ein 14-Jähriger aus dieser Gegend bei einem nächtlichen Einbruch in einen nahen Supermarkt, gerade einmal fünf Gehminuten vom Lerchenfelder Hauptplatz entfernt, von einem Polizisten erschossen worden ist. Schon seit seiner Entstehung hatte Lerchenfeld in der mondän-bürgerlichen Kremser Innenstadt einen schlechten Ruf. Dort lebten vor allem Zuwanderer aus dem In- und Ausland, Arbeiterfamilien und Arbeitslose, so das Urteil vieler Kremser über den Ortsteil.

Eine Meinung, die sich in den vergangenen Monaten, seit dem Zwischenfall am 5. August, kaum gebessert hat. Seither war in den Medien häufig von dem „sozialen Brennpunkt“ Lerchenfeld die Rede, von einem ghettoartigen Bezirk, wo Jugendliche verwahrlosen und geradezu auf die schiefe Bahn kommen müssen. Krems-Lerchenfeld, eine Brutstätte der Gesetzlosigkeit?


Keine Spur von Verwahrlosung. Ganz so schlimm ist es nicht. Wer nach Lerchenfeld fährt, findet ein Vorstadtidyll: Kastanienalleen, gesäumt von pastellfarbenen Blöcken des sozialen Wohnbaus. Vor den Häuserreihen stehen Autos von Fiat und Opel, dazwischen immer wieder leichte Motorräder. In den Innenhöfen der mehrere hundert Meter langen Wohnblöcke, die das Herz von Lerchenfeld ausmachen, spielen Kinder, von verwahrlosten Jugendlichen ist hier nichts zu sehen.

Lerchenfeld hatte von Anfang an keinen besonders guten Start. Die Nationalsozialisten haben die Siedlung, einen guten Kilometer östlich des Stadtzentrums gelegen, 1938 gegründet und Arbeiter aus der Steiermark angesiedelt. Arbeitskräfte für die „Hermann-Göring-Werke“, die heutige Voest. Noch heute ist sie der wichtigste Arbeitgeber in Krems. Derzeit stehen alle 600 Voestler hier in Kurzarbeit. Nach dem Krieg zogen in die vergleichsweise billigen Wohnungen vor allem Zuwanderer, diesmal großteils Waldviertler, die sich die langen Pendlerdistanzen ersparen wollten und daher nach Krems zogen. Heute leben in Lerchenfeld knapp 4000 Menschen.

„Arbeitslosigkeit ist hier ein Thema, ja“, sagt Günter Walter, seit 30 Jahren Pfarrer von Lerchenfeld, „aber nicht mehr als anderswo.“ Es gebe auch einen etwas höheren Migrantenanteil als im Rest der Stadt, zu Problemen wie etwa überdurchschnittlich viel Kriminalität führe das aber nicht. Das bestätigt auch der Magistrat Krems, von dort heißt es, Lerchenfeld, das sei ein durchschnittlicher Stadtteil wie jeder andere auch.

Durchschnittlich, ganz normal. Das sind überhaupt die Begriffe, die den Ortsteil am besten beschreiben. Das Bild, das sich in den langen Straßenzügen rund um den Lerchenfelder Hauptplatz, wo neben einem Supermarkt zwei kleine Lokale, eine Bank und eine Trafik das provisorische Ortszentrum bilden, abzeichnet, könnte ebenso gut in einem Vorort jeder anderen österreichischen Kleinstadt zu finden sein: apart gemähte Rasen, verschlossene Türen, neugierige Menschen, die aus ihren Fenstern alles Fremde misstrauisch beäugen.


Kaum öffentlicher Raum. Freilich, und das fällt auf: Wo größere Städte ihre Vororte durch öffentlichen Verkehr mit einem attraktiven Zentrum verbinden und so die kleinbürgerliche Fadesse dort relativieren, bleibt das ländliche Suburbia in Krems ohne einen solchen Bezugspunkt: Für Jugendliche ist die Innenstadt nur mäßig attraktiv – und ab acht Uhr abends, wenn der letzte Stadtbus gefahren ist, nicht mehr einfach erreichbar. So sammeln sich zum Wochenende hin Abend für Abend Jugendliche in dem kleinen Park rund um die Kirche, auf einem Spielplatz oder auf dem Lerchenfelder Hauptplatz, um der Enge der kleinen Wohnungen zu entgehen: Wirklich freien öffentlichen Raum sucht man in Krems-Lerchenfeld vergeblich.

In den vergangenen Jahrzehnten, erzählen mehrere Lerchenfelder, sei auch das (Arbeiter-)Vereinsleben, das in dem Ortsteil früher sehr ausgeprägt war, verödet. Es gebe einfach keine Möglichkeiten für Jugendliche, ihre Freizeit sinnvoll zu gestalten, so ein älterer Herr im „Lerchal“, dem ersten Lokal am Platz. Aber auch das ist kein Unikum in Lerchenfeld, sondern genau wie in anderen Vororten.

Das sieht auch Ewald Sacher so. Der SPÖ-Nationalratsabgeordnete und gebürtige Lerchenfelder war 13 Jahre lang Direktor der örtlichen Volksschule und kennt das Viertel gut. „Vieles, das in den vergangenen Wochen über Lerchenfeld geschrieben worden ist, sind Ferndiagnosen.“ Sacher sieht in den Aburteilungen als Problembezirk vor allem die Fortschreibung alter Vorurteile. Als wenige Wochen nach dem Zwischenfall im Supermarkt ein weiterer Jugendlicher, der Unterschriften für ein Jugendzentrum in Lerchenfeld gesammelt hatte, wegen Einbruchs verhaftet wurde, „hieß es sofort: Eh klar, wieder ein Lerchenfelder – dabei war der aus Krems. Die Jugendlichen sind hier nicht krimineller als anderswo“, so Sacher. Ein ganz normaler Wohnbezirk eben.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.10.2009)

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