Skurrile Retter und Großmachtspiele im EU-Wartesaal

„Dieses Volk benötigt Hilfe“. Der Spaßkandidat bei der serbischen Präsidentenwahl, „Ljubiˇsa Überläufer“, hält den Politikern einen Zerrspiegel vor.
„Dieses Volk benötigt Hilfe“. Der Spaßkandidat bei der serbischen Präsidentenwahl, „Ljubiˇsa Überläufer“, hält den Politikern einen Zerrspiegel vor.(c) REUTERS (MARKO DJURICA)
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Die Präsidentenwahl in Serbien ist Sittenbild für die Lage auf dem Balkan. Regionale Politiker setzen auf einen immer autoritäreren Kurs, die EU verliert Einfluss, Moskau und Ankara stoßen in das Vakuum vor.

Die Hosenbeine seines weißen Anzugs hat Serbiens selbsterklärter Heilsbringer entschlossen in die weißen Wollsocken gestopft. Statt schrillem Telefonklingeln klirren im „Wahlstab“ von Luka Maksimović, alias „Ljubiša Überläufer“, vor der Präsidentenwahl am heutigen Sonntag nur die Gläser. „Wir sitzen im Beisl und warten auf die Journalisten“, erläutert der 25-jährige Student der Kommunikationswissenschaften im Garten des elterlichen Gasthauses im Provinznest Mladenovac grinsend seine Wahlkampfstrategie. Sorgen um den Wahlausgang macht sich der Parodie-Kandidat keine: „Wir haben schon jetzt gewonnen.“

Ob der Mann mit dem Haardutt vom Schimmel, aus der Pferdekutsche oder einem alten Mercedes huldvoll das Volk grüßt, Kinder hochhebt oder vollmundig serbische Marsmissionen gelobt: Hundertausende ergötzen sich im Internet an den schrägen Wahlspots des „Weißen“. Dass die wenig verlässlichen Umfragen ihm bis zu elf Prozent prognostizieren und selbst Chancen auf den Einzug in eine Stichwahl gegen den Premier und haushohen Favoriten Aleksandar Vučić einräumen, wertet der Wirtssohn als Zeichen, in welch „desolatem Zustand“ sich sein Land befinde: „Dieses Volk benötigt Hilfe.“

Tatsächlich hält der Parodie-Kandidat der geschäftstüchtigen Politikerkaste der ganzen Region einen keineswegs schmeichelhaften Zerrspiegel vor. Im Land der politischen Wanderdünen sei es „völlig normal“, aus rein persönlichen Interessen von einer Partei in die andere zu wechseln, erläutert „Ljubiša Überläufer“ seinen Namen. Sein Berater, „Nebojša Speichellecker“, sei sein von ihm nicht zu trennender Schatten, Lautsprecher und Souffleur, der ohne Klage schallende Ohrfeigen seines autoritären Chefs hinnehme: „Solch servile Figuren finden sich in Serbiens Politik in Hülle und Fülle – vor allem im Gefolge von Herrn Vučić.“

Mit der Trickkiste gegen Opposition. Das Lachen bleibt den meisten Kandidaten der zersplitterten Opposition im Halse stecken. Sein Wahlkampf sei „sauber wie eine Träne“, beteuert Serbiens mächtiger Premier Vučić. Doch tatsächlich hat der Stab des früheren Informationsministers das gesamte Arsenal der Macht-Trickkiste gegen die lästige Konkurrenz in Stellung gebracht. Von Mord über Drogenhandel bis zur Spionage im Dienst ausländischer Mächte reichten in den vergangenen Wochen die von der Boulevardpresse und Politikern der Regierungspartei SNS erhobenen Vorwürfe gegen die Oppositionskandidaten. Denen blieb derweil im Stimmenstreit nicht nur der Zugang zu den von der Regierung kontrollierten TV-Sendern, sondern auch die Anmietung mancher Halle in der Provinz unter fadenscheinigen Gründen oft verwehrt.

Am Donnerstag flatterten in die Briefkästen der Belgrader nicht nur Flugblätter einer gefakten Bürgerinitiative, die aus angeblicher Enttäuschung über die Opposition zum Wahlboykott aufriefen. Auch an den Kiosken bot sich ein bizarres Bild: Die Titelseiten nahezu aller führenden Zeitungen zierte dieselbe Wahlreklame für Vučić. Entgeistert spricht Ex-Präsident Boris Tadić von einem „nordkoreanischen Szenario“: Das habe „den wahren Zustand von Serbiens Medien entblößt“.

Aber nicht nur in Serbien klagen Bürgerrechtler über Knebelung der Pressefreiheit, das Fehlen rechtsstaatlicher Strukturen und Schüren nationaler Konflikte durch autoritäre Politfürsten. Statt sich den von der EU gepredigten Werten anzunähern, scheinen sich deren Anwärter von diesen zu entfernen. Politikwissenschaftler Vedran Džihić konstatiert bei den Staatenlenkern der Region ein dem Vorbild des türkischen Präsidenten, Recep Tayyip Erdoğan, entlehntes Herrschaftsmodell: autoritär führen, nationalistisch argumentieren und neoliberal wirtschaften. Demokratie sei für sie „nur ein Mittel zum Zweck, nicht das Ziel“.

Die sich mehrenden Missstände in ihrem Wartesaal wurden von der mit sich selbst beschäftigten EU trotz pflichtschuldiger Ermahnungen in den vergangenen Jahren eher beiläufig und selektiv wahrgenommen. Sowohl den USA als auch der EU sei die Stabilität immer „am wichtigsten“ gewesen, sagt der Belgrader Soziologe Jovo Bakić: „Ob ein Land autoritär geführt wird oder nicht, interessiert sie nicht.“ Selbst Mazedoniens ins Visier der Justiz geratenen Dauerregenten Nikola Gruevski habe der Westen fast ein Jahrzehnt im Sattel gehalten: „Erst, als er die Stabilität nicht mehr garantieren konnte, wurde er fallengelassen.“

Wer seinen Vorhof verwahrlost, muss sich nicht über dessen Verwilderung und ungebetene Gäste wundern. Die von Misstönen überschattete Balkanreise der EU-Außenbeauftragten, Federica Mogherini, im März demonstrierte vor allem eines: Der Einfluss der EU ist am Schwinden. So verweigerte sich Mazedoniens Präsident, Djordje Ivanov, ihrer Aufforderung, dem von einer Mehrheit unterstützten Oppositionschef den Regierungsauftrag zu erteilen. In Kosovo wurde die von ihr geplante Wiedereröffnung der Brücke in der geteilten Stadt Mitrovica erneut verschoben. In Serbiens Parlament schallten ihr „Russland“-Rufe entgegen. Und auch Bosniens Dauerstreithähne sollten bei ihrem Empfang nur kurz ihr Kriegsbeil begraben. „Parteiführer für 60 Minuten vereint“, höhnte bitter das Portal „klix.ba“.

„Der Balkan hört nicht mehr auf Brüssel“, frohlockt ätzend die russische Sputnik-Agentur. Tatsächlich ködern nicht nur Russland, sondern auch die Türkei, China und die Arabischen Emirate die angeschlagenen EU-Anwärter mit bereitwillig gewährten Krediten für Großprojekte. Moskau setzt bei der Ausweitung seines Einflusses nicht nur auf ein verstärktes Propagandafeuer, sondern auch auf die Lieferung von Waffen: Lyrisch wird in Serbiens Regierungsmedien schon seit Wochen die Lufthoheit gegenüber Kroatien dank der erwarteten Morgengabe von sechs ausgedienten MIG-Jägern aus Russland besungen.

Ob bei Bosniens Dauerlähmung, Moskaus Druck auf Nato-Aspirant Montenegro oder die Politik der Nadelstiche zwischen Belgrad und Prishtina: Für den offensichtlichen Kontrollverlust Brüssels im EU-Wartesaal sind mehrere Ursachen auszumachen. Neben Erweiterungsmüdigkeit in der EU, der Ermattung in der EU-Warteschleife und dem veränderten globalen Umfeld ist es auch das widersprüchliche Agieren der EU-Mitglieder, das nicht nur regionale Politfürsten, sondern auch Moskau entschlossen das entstandene Machtvakuum für die eigenen Interessen nutzen lässt. Das Gleichgewicht der Kräfte ändere sich schnell, doch Brüssel „tappt im Nebel“, warnt besorgt Albaniens Premier Edi Rama.

Eiferer gewinnen Oberwasser. Jahrelang schien die Karotte eines fernen EU-Beitritts für Brüssel genug, um die Anwärter im EU-Wartesaal bei der Stange zu halten. Doch die Zeiten, in denen die EU und die USA die zerstrittenen Nachbarn gemeinsam auf eine Politik der Aussöhnung und rechtsstaatlicher Reformen einzuschwören versuchten, scheinen vorbei: Nach der britischen Entscheidung für den Brexit und der Wahl von US-Präsident Donald Trump gewinnen auch auf dem Balkan nationalistische Eiferer wieder Oberwasser.

Lästige Bürgerrechtsgruppen, die EU-Werte einfordern, werden von ihren Regierungen als vom Ausland oder dem US-Finanzinvestor George Soros finanzierte Söldner diffamiert. Umgekehrt schwächt die EU mit dem Hofieren fragwürdiger und mit Russland liebäugelnder Autokraten als Garanten der Stabilität die ohnehin schwache Position der proeuropäischen Opposition. „Absolut überraschend“ sei in Serbiens Wahlkampf vor allem der „Boykott“, den der Westen gegenüber Oppositionskandidaten wie Ex-Ombudsmann Saša Janković oder Ex-Außenminister Vuk Jeremić demonstriere, sagt der serbische Meinungsforscher Zoran Panović: Diese würden vom Westen ignoriert, „als ob es sie nicht geben würde“.

Der Balkan könnte leicht zu einem „Schachbrett“ für die Spiele der Großmächte werden, mahnt Mogherini die EU-Partner zu einem größeren Einsatz für die Region. Doch auch die Extrawürste von Mitgliedern, die noch stets das Loblied auf die Erweiterung anstimmen, tragen zum widersprüchlichen EU-Erscheinungsbild bei. Wie einst Slowenien dem Nachbarn Kroatien den EU-Beitritt nach Kräften erschwerte, mimt nun auch Zagreb den Bremser der serbischen EU-Ambitionen. Wien wiederum wertete in der Flüchtlingskrise jeden noch so fragwürdigen Strippenzieher als geschätzten Partner zur Abriegelung der Balkanroute auf: So mimte Außenminister Sebastian Kurz Ende 2016 den Wahlkampfhelfer für Mazedoniens Ex-Premier Gruevski, obwohl die EU diesen seit Jahren erfolglos zur Einhaltung demokratischer Spielregeln drängt.

Ein Schreiben an die Tante Europa. In einem offenen Brief an die „Tante Europa im Namen der armen Neffen vom Westbalkan“ erinnerte der serbische Journalist Dejan Anastasijević kürzlich an das 2003 gelobte Beitrittsversprechen von Thessaloniki: „Du versprachst uns damals, dass wir bald in Dein großes Haus nach Brüssel ziehen dürften. Wir müssten nur gute Manieren lernen.“ Die Balkanneffen hätten wirklich alles versucht: „Wir hörten auf, uns zu streiten, begannen unsere Zimmer aufzuräumen und sogar unser Spielzeug zu teilen.“ Doch die Belohnung sei ausgeblieben. Und inzwischen habe man realisiert, „dass Du uns wirklich nicht willst“: „Wir haben Deine Botschaft verstanden. Du hast uns aufgegeben. Und wir Dich – und uns selbst.“

Und Anastasijević fährt im Neffenbrief fort: Serbien sei wieder zum bösen Buben geworden; der kaum neun Jahre alte Kosovo wolle mit echten Waffen statt mit Spielzeug spielen; Mazedonien plagten Selbstmordneigungen; Bosnien zerreiße sich selbst; Montenegro wähne sich an „der Spitze der Welt“ und Albanien sitze den ganzen Tag „schmollend in der Ecke“: „Es ist ein Chaos: Wir spielen selbst mit den bösen Buben, vor denen Du uns stets gewarnt hast, mit Wladimir, mit Recep. Aber wir brauchten Freunde. Und vielleicht sind sie doch nicht so schlecht, wie Du immer behauptet hast.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.04.2017)

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