EU-Brexit-Gipfel: Demonstrative Einigkeit in Rekordzeit

Am runden Brexit-Tisch in Brüssel.
Am runden Brexit-Tisch in Brüssel.APA/AFP/POOL (VIRGINIA MAYO)
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Die Chefs der EU-Staaten haben sich am Samstag einstimmig auf die Leitlinien für die Brexit-Verhandlungen geeinigt. Hoffnungen macht sich Kanzler Kern auf eine eventuelle Übersiedlung einer der zwei bisher in Großbritannien ansässigen EU-Institutionen.

Einstimmig haben die Staats- und Regierungschefs der 27 verbleibenden Länder der Europäischen Union am Samstag in Brüssel die Leitlinien für die Brexit-Verhandlungen gebilligt. Die EU-Staaten hätten ein "solides und faires politisches Mandat" für die Gespräche mit London erteilt, erklärte EU-Ratspräsident Donald Tusk. Für Bundeskanzler Christian Kern warten nun "große Herausforderungen" für die EU. Der Beschluss sei in Rekordzeit von weniger als 15 Minuten beim Sondergipfel in Brüssel getroffen worden, ergänzte EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker. Die eigentlichen Verhandlungen sollen seinen Angaben nach aber erst nach den britischen Unterhauswahlen am 8. Juni beginnen. Der EU-Austritt Großbritanniens soll 2019 vollzogen werden.

Die Leitlinien waren in den vergangenen Wochen durch die Europaberater der Staats- und Regierungschefs vorbereitet worden, Änderungen waren bei dem Gipfel nicht mehr erwartet worden. Zentraler Punkt ist die Forderung, in zwei Phasen zu verhandeln. Erst müssten Fragen des Austritts ausreichend geklärt sein, bevor die EU mit Großbritannien über die künftige Zusammenarbeit verhandle. Ein "Rosinenpicken" Londons will die EU nicht erlauben, etwa bei der Frage, ob Großbritannien weiter Zugang zum EU-Binnenmarkt erhält.

Das betonte auch die deutsche Kanzlerin Angela Merkel und machte unmittelbar vor Beginn des Treffens deutlich, dass sie vor allem im Streit über die Schlussrechnung für Großbritannien hart bleiben will. Bei den "Trennungsfragen" gehe es "eindeutig", um die künftigen Rechte "unserer Bürger in Großbritannien und der britischen Bürger in der EU, plus natürlich auch finanzielle Fragen", sagte Merkel.

Leitlinien der EU-27 für Verhandlungen

Der Europäische Rat wird sich weiterhin an die Prinzipien, die beim Europäischen Rat am 29. Juni 2016 vereinbart wurden, halten. Der Europäische Rat bekräftigt seinen Willen, das Vereinigte Königreich als engen Partner zu behalten. Ein künftiges Abkommen muss auf der Integrität des Gemeinsamen Marktes basieren. Ein Nicht-Mitglied der EU kann nicht die selben Rechte und Vorteile wie ein EU-Mitglied haben. In diesem Zusammenhang begrüßt der Europäische Rat, dass die Regierung Großbritanniens die Untrennbarkeit aller vier Grundfreiheiten anerkennt. Die EU wird ihre Autonomie bei der Entscheidungsfindung sowie die des Europäischen Gerichtshofs behalten.

Die Verhandlungen unter Artikel 50 des EU-Vertrages sollen transparent und in einem Paket ablaufen. In Abstimmung mit dem Prinzip, dass nichts als vereinbart gilt, solange nicht alles vereinbart ist, können individuelle Themen nicht separat gelöst werden. Die Union wird mit gemeinsamen Positionen in die Verhandlungen gehen und es wird keine Verhandlungen zwischen einzelnen Mitgliedstaaten und dem Vereinigten Königreich über einen Austritt aus der EU geben. Diese Grundprinzipien sollen bei allen Verhandlungen über den Rahmen der zukünftigen Beziehungen und etwaige Übergangsabkommen angewandt werden.

60 Milliarden Euro sind "vorsichtige Schätzungen"

Wie hoch die Zahlungen für Großbritannien ausfallen werden, ist bisher unklar. EU-Kommissionspräsident Juncker betonte jedoch, dass die kursierenden 60 Milliarden Euro keine Forderung seien, "sondern vorsichtige Schätzungen". Bisher gebe es "keine Forderung, die so weit gehen würde, dass sie schon präzise formulierbare wäre".

Dass der EU-Austritt der zweitgrößten Volkswirtschaft der EU auf die bleibenden Staaten Auswirkungen haben wird, sieht auch Kern (SPÖ). "Wir haben uns im Vorfeld schon mit einigen anderen Nettozahlern getroffen", sagte der Bundeskanzler im Vorfeld des Treffens. Natürlich sei es das Interesse, dass das so schonend abgehe wie möglich, "dass es zu keinen höheren Beitragszahlungen kommt, das ist ganz klar. Diese Position werden wir auch verteidigen und deutlich führen."

Über die Schlussrechnung nach über 40 Jahren EU-Mitgliedschaft dürfte es in den Brexit-Verhandlungen Streit geben. Dazu zählen Budgetverpflichtungen, Zusagen gegenüber EU-Institutionen sowie Pensionskosten für Beamte und etliches mehr. Die britische Regierung lehnt es ab, nach dem Brexit weiter große Summen an die EU zu überweisen.

Bundeskanzler Christian Kern in Brüssel.
Bundeskanzler Christian Kern in Brüssel.APA/BKA (ANDY WENZEL)

"Wir haben unsere Bewerbung im Gepäck"

Hoffnungen macht sich Kern unterdessen auf eine eventuelle Übersiedlung einer der zwei bisher in Großbritannien ansässigen EU-Institutionen. "Wir haben unsere Bewerbung im Gepäck", so Kern. Österreich biete hervorragende Infrastruktur als Life-Sciene-Standort. "Ich denke, wir dürfen uns berechtigte Hoffnungen machen was die EMA (European Medicines Agency) betrifft, wahrscheinlich etwas geringere bei der EBA (Europäische Banken Agentur)." Eine Entscheidung in dieser Frage wird nicht am Samstag erwartet.

Im Anschluss an die Abstimmung begann eine Aussprache der Staats-und Regierungschefs. Dabei konnten einzelne Mitgliedstaaten darlegen, welche Schwerpunkte sie in den Verhandlungen setzen wollen. Dies soll in das Mandat für den Brexit-Verhandlungsführer der EU-Kommission, Michel Barnier, einfließen.

Dass die EU-27 in der Frage Brexit geeint bleiben, davon ist Frankreichs Präsident Francoise Hollande überzeugt. Er habe jedes Vertrauen in diese Richtung, erklärte das scheidende Staatsoberhaupt. Es geht nicht darum, die Briten für ihren Austritt zu bestrafen, aber: "Das Vereinigte Königreich wird künftig schlechtere Bedingungen haben als heute als EU-Mitglied."

Bei dem Treffen am Samstag sollen nach Angaben von Diplomaten auch besondere nationale Anliegen in dem Brexit-Prozess angesprochen werden können. Dazu gehört etwa die Frage des Verhältnisses zwischen Irland und dem zu Großbritannien gehörenden Nordirland. Dort hatten die Spannungen zwischen Protestanten und Katholiken in den vergangenen Jahren abgenommen. Durch den Brexit könnte sich dieser Konflikt wieder verschärfen. Kern macht sich bei der Lösung dieser Frage "keine großen Sorgen".

(APA/dpa/AFP/Reuters)

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