Frankreich. Der neue Präsident kann nach den Parlamentswahlen mit bis zu 400 der insgesamt 577 Sitze rechnen.
Paris. Bei den französischen Parlamentswahlen am Sonntag und bei einem zweiten Durchgang am 18. Juni könnte eintreten, was vor ein paar Wochen noch als unmöglich galt. Der neue Präsident, Emmanuel Macron, darf laut Umfragen mit einer absoluten Mehrheit rechnen. Ausgehend von den jüngsten Zahlen der repräsentativen Befragungen und den entsprechenden Simulationen in den Wahlkreisen, in denen je ein Sitz nach dem traditionellen Mehrheitswahlmodus vergeben wird, könnte die Regierungsmehrheit sogar auf mehr als 400 der insgesamt 577 Sitze in der Nationalversammlung kommen. In den französischen Medien ist von „Raz-de-marée“, einer „Flutwelle“, zugunsten von Macron die Rede.
Die Parteien, die in den vergangenen Jahrzehnten in Frankreich den Ton angegeben haben – die Parti Socialiste (PS) und ihre Verbündeten (Grüne und linke Radikale) sowie die Konservativen Les Républicains (LR) – müssen eine verheerende Niederlage gewärtigen. Die Fraktion der zuvor regierenden Sozialisten beispielsweise könnte von bisher 280 auf weniger als 30 Sitze zusammenschmelzen. Die bürgerliche Rechte scheint noch eher in der Lage zu sein, Widerstand zu leisten, dürfte aber ebenfalls die Hälfte ihrer bisher 230 Mandate verlieren. Ebenso scheint weder der rechtsextreme Front National (FN) von Marine Le Pen noch die linke France insoumise (FI) von Jean-Luc Mélenchon in der Lage zu sein, diese sich abzeichnende Hegemonie der Macronisten ernsthaft zu gefährden.
Marine Le Pen, die am 7. Mai das Wahlduell gegen Macron zwar verloren, aber immerhin rund elf Millionen Stimmen (fast 33,9%) erhalten hat, kann nicht einen mit den Präsidentenwahlen vergleichbaren Vormarsch erwarten. Die FI-Kandidaten haben zudem in manchen Fällen Konkurrenz seitens der Kommunisten (PCF), die ihre Wahlallianz mit Mélenchon aufgekündigt haben.
Der Bewegung des Präsidenten, La République en Marche (REM), werden landesweit insgesamt 29,5% der Stimmen vorausgesagt, den bürgerlichen Kandidaten von LR und UDI (Zentrum) 23%, dem FN 17%, den Unbeugsamen von FI 12,5% und den Sozialisten gerade noch 8,5%.
Diese Prozentzahlen vermitteln aber nur einen schwachen Eindruck der Tendenz bei der zu erwartenden Sitzvergabe und der tatsächlichen Kräfteverhältnisse in der zukünftigen Nationalversammlung. Manche sozialistischen oder konservativen Bewerber zögern nicht, mit ihrer Unterstützung des neuen Staatschefs Wahlkampf zu machen. In rund 50 Wahlkreisen, wie beispielsweise im Fall des früheren sozialistischen Premierministers Manuel Valls, hat REM aus diesem Grund keinen Gegenkandidaten gegen solche potenziellen Verbündeten aus dem Lager der Sozialisten oder bürgerlichen Rechten aufgestellt.
Macrons Triumph bei den Präsidentschaftswahlen wäre nach einem Sieg bei der Parlamentswahl perfekt. Die politische Landschaft erlebt eine Erneuerung, wie sie Frankreich seit dem Kriegsende in diesem Ausmaß nie erlebt hat. Wenn bisher die Politik weitgehend nach dem dualen Links-rechts-Schema funktioniert hat, übt jetzt die neue Präsidentenpartei La République en Marche in der Mitte des politischen Spektrums eine nahezu unwiderstehliche Anziehungskraft aus.
Sarkozy: „Dann ist er ein Genie“
Die Kandidaten und Kandidatinnen von REM werden in sehr vielen Fällen in die Stichwahl gelangen und können dann auf zusätzliche Stimmen von links und rechts hoffen. Diese Ausgangslage ist völlig neu in Frankreich, wo es immer hieß, in der Mitte sei keine Mehrheit zu gewinnen. Selbst gestandene Politiker wie Ex-Präsident Nicolas Sarkozy können über den Erfolg von Macrons Strategie nur staunen: „Das kann (normalerweise) nicht funktionieren. Aber wenn das trotzdem funktioniert, dann ist er ein Genie, und wir können uns nur verbeugen vor ihm.“ Tatsächlich hat man den Eindruck, dass der Präsident die etappenweise Machteroberung in mehreren Schachzügen geplant und seine Gegner ausgeschaltet hat.
In den 577 Wahlkreisen treten am Sonntag insgesamt 7882 Kandidaten an. Während es für REM um die Eroberung einer absoluten Mehrheit und für die etablierten Parteien um die Rettung von ein paar Sitzen und ihrer Ehre geht, treten viele Splitterparteien in möglichst vielen Wahlkreisen an, um ihre Ideen zu verbreiten und in den Genuss der öffentlichen Subventionen zu kommen, die von der Zahl der Kandidaturen und der erhaltenen Stimmen abhängt.
Härtetest für neue Minister
Viele bisherige Volksvertreter, unter ihnen auch Ex-Minister von Präsident Hollande, müssen damit rechnen, als kollaterale Opfer von der Macron-Flutwelle fortgespült zu werden. Mehrere Regierungsmitglieder wie Wirtschaftsminister Bruno Le Maire, die Europaministerin Marielle de Sarnez sowie der Minister für territorialen Zusammenhalt, Richard Ferrand, sind ebenfalls als Kandidaten nominiert. Macron hat ihnen eine ungeschriebene Regel in Erinnerung gerufen: Wer verliert, muss zurücktreten.
AUF EINEN BLICK
Frankreich wählt am 11. und 18. Juni eine neue Nationalversammlung. Wer mit absoluter Mehrheit gewinnt, hat das Mandat sicher. Dieses Kunststück gelang bei der letzten Wahl 2012 nur in 58 der insgesamt 577 Wahlkreise. In der zweiten Runde treten die Kandidaten an, die im ersten Durchgang mindestens 12,5 Prozent der Stimmen erhalten haben. Frankreichs Nationalversammlung ist das zentrale Gesetzgebungsorgan des Landes. Die 577 Abgeordneten werden nach dem Mehrheitswahlrecht für fünf Jahre bestimmt. Die Nationalversammlung hat mehr Bedeutung als der Senat.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.06.2017)