Deutschland: AfD, die Alternatiwa für Russlanddeutsche

Die AfD wirbt heftig um die Gunst der Russlanddeutschen. Mit Erfolg.
Die AfD wirbt heftig um die Gunst der Russlanddeutschen. Mit Erfolg. (c) REUTERS
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Jahrelang machten Aussiedler ihr Kreuz bei der CDU. Doch nun schwindet der Einfluss von Kanzlerin Merkel auf die größte Wählergruppe mit Migrationshintergrund. Warum?

Berlin. Zahlreiche Plattenbauten zeugen von der DDR-Vergangenheit in Berlin Marzahn-Hellersdorf. Nach der Wende standen viele Wohnungen leer. 30.000 Russlanddeutsche kamen. Heute gibt es hier den Mix-Markt, in dem Produkte auch auf Kyrillisch angeschrieben sind, es gibt russische Kitas und russische AfD-Anhänger.

Jahrelang war die CDU die „Schutzmacht“ der Russlanddeutschen. Helmut Kohl hatte ihnen die Heimkehr ermöglicht. Man wählte die CDU aus Dankbarkeit und weil man selbst eher wertekonservativ war. Doch unter „Kohls Mädchen“ gilt der Pakt nicht mehr bedingungslos. Die in die Mitte gerückte Kanzlerin Angela Merkel verliert Zustimmung in der vermutlich größten deutschen Wählergruppe mit Migrationshintergrund. Belastbare Zahlen gibt es zwar nicht. Schätzungen zufolge sind jedoch 1,5 Millionen Russlanddeutsche wahlberechtigt, also sogenannte deutschstämmige (Spät-)Aussiedler aus dem ehemaligen Ostblock. Achim Goerres von der Uni Duisburg schätzte in der „Welt“, dass bis zu 20 Prozent von ihnen AfD wählen werden.

AfD „sehr geschickt“

Alexander Reiser – Glatze, knallig rotes T-Shirt, Sakko – kam aus Wladiwostok nach Marzahn. Er leitet den Aussiedler-Verein Vision, der für Demokratie und Toleranz kämpft. Er steht der AfD nicht nahe, aber er hat Erklärungen. Die Flüchtlingskrise habe viele Russlanddeutsche „aufgescheucht“, sagt er. Doch der Riss geht tiefer. Die Heimkehr „zu den Brüdern und Schwestern“ lief anders als erwartet. Die Aussiedler fühlten sich als Deutsche, aber dann hörten sie: „Ne, ihr seid Russen“. Es ist eine tiefe Kränkung, die Reiser andeutet. Die Gemeinschaft „lechzte nach Anerkennung“, so Reiser. Zuerst versuchte es die rechtsextreme NPD, dann die AfD. Die „haben das sehr geschickt ausgenutzt“, sagt Reiser. Auf allen Kanälen umarmt die AfD die Russlanddeutschen, mit eigenen Kandidaten, Ständen, mit Programmen auf Russisch, mit ihrer Forderung nach einem Ende der Russland-Sanktionen und mit teils derben Einträgen in kyrillischer Schrift in sozialen Netzwerken. Es geht dann auch um die Flüchtlingskrise, den Herbst 2015.

„Ich habe mich davor überhaupt nicht für Politik interessiert“, sagt Olga Vitlif vor der Auslandspresse. Heute wirbt die Krankenschwester für die AfD. Die Flüchtlinge müssten einfach den Pass vor der Grenze wegschmeißen, sagt sie. Die Verfahren für Heimkehrer dauern drei, vier Jahre. Reiser etwa hatte Deutsch studiert, aber er musste, um seine Wurzeln zu belegen, im Test auf „Altschwäbisch“ parlieren. Es gab auch keinen Beifall bei der Ankunft der Spätaussiedler. Anders als bei den Flüchtlingen. Wieder deutet sich eine gefühlte Zurückweisung an.

Zudem wusste man aus eigener Erfahrung, dass die Integration der Flüchtlinge schwierig werde: „Wir kommen ja aus einem autoritären Staat. 10, 20 Prozent der Spätaussiedler werden nie Demokratie lernen“, sagt Reiser. Er ist sich sicher, dass auch die Erinnerungen an die instabilen Jelzin-Jahre im Mehrvölkerstaat Russland eine Rolle spielten. Man fürchtete, wenn auch unbegründet, solche Verhältnisse nun in Deutschland. Putins Staatsmedien schürten die Ängste vor Islamisierung, indem sie Bilder eines Europas zeigten, das von Migranten überflutet wird und im Chaos versinkt – und sie stürzten sich auf den Fall Lisa, die frei erfundene Vergewaltigung einer 13-Jährigen aus Marzahn. Nun gingen zahlreiche Russlanddeutsche auf die Straße. Wieder kochten die Erinnerungen an den „totalitären Staat“ und eine vertuschende „korrupte Polizei“ hoch, meint Reiser.

Rechtsruck in „Klein-Moskau“

Olga Vitlif, die AfD-Anhängerin, hatte sich Deutschland irgendwie anders vorgestellt. Die Ankunft war ein „Kulturschock“ sagt sie. „Wir Russlanddeutsche sind so erzogen worden, dass wir auf unsere Wurzeln stolz sind.“ Aber in Deutschland stieß sie auf Schuldgefühle. Dieses Land war wohl anders als in den Erzählungen ihrer Vorfahren: bunter, weniger konservativ.
Die Aussiedler sind eine heterogene Gruppe. Es gibt auch heftigen Protest gegen die AfD. Aber etwas hat sich verschoben, wie Landtagswahlen anzeigten: In Marzahn lag die AfD über 20 Prozent. Und in Pforzheim, Baden-Württemberg, das wegen seines hohen Anteils an Russlanddeutschen den Spitznamen „Klein-Moskau“ trägt, fuhr die AfD in einem von Russlanddeutschen dominierten Stadtteil 44 Prozent ein.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.09.2017)

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